die Dahlie des Hasses Profile picture
Sep 2, 2020 25 tweets 4 min read Read on X
Meine TL springt voll auf den Drosten an, aber wie fast immer, werd ich den Eindruck nicht los, dass die meisten ihn gar nicht verstehen.
Der Mensch stört da irgendwie immer rein, hm?
Klingt wie ein schlauer Spruch.

Und ist eines der größten Probleme der modernen Gesellschaft.
Denn meine Beobachtung ist, dass Wissenschaft völlig falsch gedacht wird.
Der Fehler entsteht an folgender Stelle:
Nur weil wir Menschen die geistigen Kapazitäten haben in manchen Fällen die Logik hinter den Ereignissen zu erkennen und zu beschreiben, sind wir keine Wesen,
die logisch handeln.
Der Fehlschluss ist mMn, dass logisches Denken und Handeln, die Mathematik, die physikalische Formel dahinter als höchstes Ziel verehrt und als Goldstandard gesetzt wird.
Auf der einen Seite gibt es die Wissenschaft, die reine Mathematik, die übergeordnete
Naturkonstante. Sie scheint besser als der Mensch, denn sie beruht auf universalen Gesetzmäßigkeiten und ist nicht vom fehlerhaften Mensch gemacht.
Wenn ein*e Wissenschaftler*in also nach etwas Beweisbarem strebt, dann will er/sie eine Zahl, eine Formel, einen Rechenweg, der
formal richtig ist. Dann kann zwar die Hypothese falsch sein, aber nicht seine Arbeit, denn man hat ja richtig gerechnet.

Jetzt passen aber zwei Dinge nicht in dieses Denkmuster.
1. Der Mensch ist kein Taschenrechner.
2. Wissenschaft ist eine Kunstform.
Das widerspricht allem,
was wir von Naturwissenschaften, denn von denen rede ich vornehmlich, verlangen.
Warum behaupte ich das?

Ich verlasse jeden Tag das Institut und bin jeden einzelnen verdammten Tag schockiert, dass da draußen Menschen rumlaufen. Das liegt daran, dass ich besonders stark darauf
geprägt bin, wie eine Maschine zu handeln. Die Biologie ist schon unberechenbar genug, darum muss die biologische Forschung so berechenbar wie möglich sein. Die blöde Reproduzierbarkeit raubt einem sonst den Schlaf. Ich muss also im Institut so roboterhaft denken und handeln
wie nur irgendmöglich. Alle Handgriffe, die Protokolle, alles Programme, die man immer gleich abspuhlt. Das ist ja der Goldstandard, nach dem wir streben.
Und dann fahr ich ausm Parkhaus raus und dann sind da lauter Leute auf der Straße, die ums Verrecken nicht reagieren, wie
Maschinen! Glaubt mir, es macht mich fertig.
Und da reißen sich also die Wissenschaftler*innen den Allerwertesten auf und finden was raus und dann handelt die Politik nicht danach, oder nur begrenzt und die Bevölkerung handelt einfach nicht logisch, obwohl die Zahlen doch ganz
eindeutig da stehen und ganz klar sagen, was man tun muss! Himmelarsch...!
Ja nun.
Wär der Mensch eine Maschine, würde er tun, was eine Maschine tut, nämlich einer Reihe formal logischer Befehlen folgen.
Danket dem Herrn, dass wir das nicht tun. Oder nicht mehr so oft, denn
rein formal waren wir uns wohl einig, dass wir da ein paar ethische Probleme bekommen, wenn wir dieser Logik folgen.
Überhaupt ist das mit der Logik ne tolle Sache.
Ich hab in Zürich damals ein paar Jahre Philosophie studiert und das Fach Logik ist immer noch mit das Beste, was
ich je lernen durfte. Ernsthaft denke ich, dass die Naturwissenschaften die Philosophie aus ihren Grundlagenfächern gestrichen hat, ist der wohl schlimmste Fehler, den ‚logisch denkende Menschen‘ je gemacht haben.
Was mich zum zweiten Punkt führt.
Ich persönlich halte
‚die Naturwissenschaften‘ für falsch herum gedacht. Nicht die formal richtig ‚bewiesenen‘ Zahlen sollten dass goldene Kalb sein, sondern der Mensch in seinem ganzen Spektrum der Menschlichkeit muss im Zentrum stehen.
Wir sind nämlich nicht fehlerhaft. Wir sind auch nicht die
Krone der Schöpfung. Wir sind Teil der echten Natur. Ich meine auch nicht Natur als das, was wir heute dazu verklären. Wir funktionieren stofflich nach simplen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Aber wir haben ein Bewusstsein entwickelt und funktionieren über Gefühle und
Erfahrungen. Und selbst der reine Erkenntnisgewinn der Grundlagenforschung ist bedeutungslos, wenn wir ihn nur generieren, um damit weiter Computer zu füttern. Daten selbst haben nur einen begrenzten Eigenwert. Daten bekommen Bedeutung durch ihre Interpretation durch Menschen.
Und da wären wir bei der Kunst. Jeder der lange genug in der wissenschaftlichen Forschung tätig war, um nicht mehr grün hinter den Ohren zu sein, weiß, dass die Kernkompetenz guter Wissenschaftler*innen ist, ein Gesamtwerk aus Einzelwerken zu schaffen, das der Interpretation
im wissenschaftlichen Diskurs standhält. Wissenschaft ist Idee, ist Inspiration und Komposition, das aufs Papier bringen und darstellen einer fundamentalen Erkenntnis, um sie anderen Menschen mitzuteilen und diese teilhaben zu lassen.
Wissenschaft ist niemals einen korrekten
Rechenweg hinschreiben und sagen ‚Da schau, ich hab’s ausgerechnet!‘
Darum ist es so schwer, Wissenschaftler*in zu werden. Denn das Handwerkszeug kann man üben und erlernen. Aber sich das Handwerkszeug neu ausdenken und dann kreativ in unterschiedlichen Bereichen anzuwenden,
das kann man nicht auswendig lernen. In exakt dem Moment gibt ein Prozessor auf und das Gehirn kann sein Potenzial zu voller Blüte entwickeln.
So wie eine Malerin ein Bild in sich trägt und dann Material, Farben und Technik so einsetzen muss, damit das Bild für andere sichtbar
wird. So wie eine Schriftstellerin eine eigene Sprache erfinden muss, um uns ihre Geschichte zu erzählen. So wie eine Musikerin ein Instrument braucht und es beherrschen muss, damit wir alle hören können, was sie hört, ihre Botschaft, ihre Erkenntnis.
Exkat das ist
Wissenschaft.
Und nein der Mensch ist da kein Störfaktor. Nicht wir stören die Wissenschaft. Wir geben ihr Bedeutung. Wir geben den Erkenntnissen Bedeutung, nicht dem Rechenweg, nicht den absoluten Zahlen.
Was Drosten versucht ist nicht, euch zu Robotern zu machen.Ihr müsst nicht
den Rechenweg verstehen, ihr sollt die Musik hören, die er hört. Er erklärt euch das Bild, dass er und alle beteiligten Wissenschaftler*innen gerade malen. Das Bild ist nicht fertig und hängt im Museum. Das Bild entsteht gerade.
Und Drosten erklärt, warum er mit welcher Farbe,
Welchen Teil der Leinwand bearbeitet, warum er wann welche Technik einsetzt. Es geht darum, dass ihr das Bild seht.
Die tiefe Interpretation bleibt in der Fachwelt. Aus gutem Grund. Aber die Botschaft, die soll jeder sehen und verstehen können.
Diese Botschaft soll keine
mathematisch logischen Folgen auslösen in der Bevölkerung. Sie soll ein Gefühl erzeugen, Vertrauen aufbauen, sie soll euch anrühren, wie ein Konzert.
Das ist der Sinn von Wissenschaft. Es geht um intuitives Verstehen. Und das macht Drosten wirklich gut.
Um konkrete Maßnahmen
führen Fachpersonen und Entscheidungsträger Diskussionen. Und auch da wird nicht stringent logisch entschieden, eben weil wir keine Roboter sind. Weil der Mensch nicht ein einziger Makel ist, sondern weil sein Potential weit über das jedes Roboters hinausgeht.
Nämlich.

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