Luzia Tschirky Profile picture
Former Correspondent in Ukraine, Russia and Belarus. 📺 I wrote a book about the war and my time as a correspondent. Now, I am ready for the next step.

Nov 3, 2021, 41 tweets

Dank einem Post auf Social Media habe ich einen Anhaltspunkt, dass ich in der Nähe eines Einkaufszentrums auf Menschen aus dem Nahen Osten treffen könnte, die kürzlich nach #Belarus eingereist sind. Vor Ort angekommen, stellt sich schnell heraus, dass der Hinweis korrekt ist.

Vor dem Einkaufszentrum sind vor einem Jahr Demonstranten vorbeigezogen. Heute ist es Treffpunkt für Menschen, die der Lüge von Schleppern nach Belarus gefolgt sind, von hier könnten sie in die EU reisen. Bizarr wirkt der Werbeslogan an der Fassade: «Träumen Sie von mehr!»

Ich spreche eine Gruppe von jungen Männern an: «Are you planning to go to Germany?» und dem einzigen Wort auf Kurdisch, dass ich aufgeschnappt habe und ich mir zutraue auszusprechen: «Almanya?» - «Deutschland?». Sie bleiben stehen und ich lerne Ali und seine Freunde kennen.

Ali spricht zu meinem grossen Glück Englisch. Russisch hilft mir bei dieser Reise nach #Belarus kaum weiter, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Vor Ort Übersetzer/innen für die verschiedene Dialekte des Kurdischen und Arabischen zu finden, stellt sich als unmöglich heraus.

Im Einkaufzentrum gibt es eines der wenigen Restaurants in Minsk in welchem «halal» gegessen werden kann. Die Kellnerin nickt verständnisvoll:«Jeder möchte doch ein besseres Leben finden.»
In Belarus ist allen bewusst, weswegen seit Monaten Menschen aus dem Nahen Osten einreisen.

Beim Mittagessen beginnen Ali & seine Freunde zu erzählen. Über ihr Leben im Nordirak & die fehlenden Perspektiven für ihre Generation. An den Tischen rund herum spricht niemand Russisch. Wäre vor dem Fenster nicht ein Sowjethotel zu sehen, könnte ich vergessen in Minsk zu sein.

Ali hofft auf ein besseres Leben in Deutschland, Ibrahim möchte nach Schweden zum Bruder. Unterwegs zu ihrer Unterkunft erzählen sie mir, dass sie von Belarus vor wenigen Monaten zum ersten Mal gehört hätten. Bekannte hätten erzählt, es sei möglich via Minsk in die EU zu kommen.

2’500 US-Dollar hätten sie für Flug und Visum pro Person bezahlt, erzählen sie mir. Ein grosser Teil des Geldes fliesst in staatliche Kassen in Belarus. Agenturen u.a. im Irak verkaufen Pakete von Flug+Übernachtung bei belarussischen Staatsunternehmen.

Mit einer Visums-Einladung, ausgestellt von diesem Hotel, sind Ali und seine Freunde ursprünglich ins Land gekommen. Bei Aufnahmen wie diesen versuche ich vorsichtig zu sein. Staatlich kontrollierte Hotels werden in Belarus meist gut bewacht von Sicherheitskräften.

Zum Zeitpunkt, wo wir uns kennenlernen ist ihr Touristenvisum bereits ausgelaufen, in Hotels können sie ohne gültige Papiere in Belarus nicht mehr übernachten. Sie wohnen deswegen für mehrere Tage in einem Hostel. Hier sind auch Familien mit Kindern untergebracht.

Auch die anderen Gäste im Hostel sind den Lügen von Schleppern nach Minsk gefolgt. Wie viele Migrant/innen sich zur Zeit in Belarus aufhalten, um die EU-Grenze zu überqueren, lässt sich nur schätzen. Es kursiert die Zahl von 15’000 Personen.

Den Behörden in Belarus sollen 2‘000 Personen bekannt sein,die sich z.Z. ohne gültiges Visum im Land aufhalten. Wenige Stunden nach unserem Treffen kommt die Polizei ins Hostel und fotografiert die Pässe. Ali & seine Freunde werden unruhig,sie wollen möglichst schnell zur Grenze.

Dreimal haben die jungen Männer zu diesem Zeitpunkt bereits vergeblich versucht über die EU-Grenze zu kommen. Von ihrem letzten Versuch an der belarussisch-polnischen Grenze schickt mir Ali dieses Video:

Eine Rückkehr in den Irak komme für ihn nicht in Frage, sagt Ali: «Ich werde es 20 Mal versuchen, wenn es sein muss.»

Von Minsk sind es wenige Autostunden bis zur Grenze mit Litauen und auch zur Grenze mit Polen. Die meisten Migrant/innen fahren mit Taxis, teilweise auch in Kleinbussen. Ein Taxifahrer erzählte, dass er zuletzt bis zu sechs Mal pro Tag an die Grenze gefahren sei.

Vor Ort bekomme ich den Eindruck, dass die meisten Migrant/innen zuletzt an der Grenze mit Polen, im Gebiet zwischen den Städten Grodno und Brest, versuchen würden in die EU zu gelangen.

Dafür sprechen auch die Zahlen des polnischen Grenzschutzes. Im Oktober wurden auf polnischer Seite mehr als doppelt so viele Versuche von illegalen Grenzübertritten aus Belarus gezählt wie noch im Vormonat September.

Um mir möglichst ein Bild vor Ort zu verschaffen, bin ich nach Grodno gefahren. Unmittelbar an der Grenze konnte ich mich nicht umzusehen. Auch mit gültiger Akkreditierung brauche ich in Belarus als ausländische Journalistin für Grenzgebiete eine zusätzliche Spezialbewilligung.

Nachdem Lukaschenko im Interview mit CNN Anfang Oktober sagte, Medien seien willkommen, sich in Belarus an der Grenze ein Bild vor Ort zu verschaffen, habe ich bei der zuständigen belarussischen Behörde angefragt. Eine Antwort habe ich bis heute nicht bekommen.

Es bleibt bei dem Blick aus Distanz - wie hier südlich von Grodno. Gefilmt mit dem Smartphone, weil ich für den russischen Kameramann vergeblich monatelange versucht habe eine Akkreditierung in Belarus zu erhalten. Für einen Schweizer Kameramann ist der Antrag seit August hängig.

Mit dem Smartphone zu filmen hat den Vorteil, dass es deutlich weniger auffällig ist als Kamera & Stativ. In manchen Fälle dürfte meine Arbeit bei Ausstehenden dennoch für Fragen sorgen. 😉Kollegin @hebelowski hat festgehalten, wie das Video (siehe im Tweet zuvor) entstanden ist.

In der Stadt Grodno sind bis Mitte Oktober in diesem Hostel Migrant/innen aus dem Irak untergekommen. Alle 24 Migrant/innen wurden am 13.10 von der Polizei mit einem Kastenwagen abgeholt & das Hostel wurde geschlossen. Der aktuelle Aufenthaltsort der Migrant/innen ist unbekannt.

Laut der Polizei sollen alle 24 Personen zurück in den Irak geschickt werden. Wo die Migrant/innen bis dahin untergebracht sind, ist unbekannt. Zugang zu festgenommenen Migrant/innen kann nur das belarussische Rote Kreuz erhalten. Auch dort gibt es keine weiteren Informationen.

Das belarussische Rote Kreuz ist zudem die einzige Hilfsorganisation, welche auf belarussischer Seite ins Grenzgebiet vorgelassen wurden, um Migrantinnen und Migranten in Not zu helfen. Bisher gab es jedoch nur wenige Einsätze. Bilder vom 21.10. Fotoquelle: Facebook/redcross.by

Das belarussische Roten Kreuz ist jedoch keine unabhängige Hilfsorganisation, sondern gilt als staatlich kontrolliert. Unabhängige belarussische Hilfs- & Menschenrechtsorganisationen gibt es im Land keine mehr. Diese wurden alle in den vergangenen Monaten zwangsaufgelöst.

Für ehemalige Mitarbeitende von unabhängigen Organisationen ist das Risiko zu helfen zu gross. Jegliche koordinierte Hilfe könnte diesen Belaruss/innen als Verstoss gegen die Auflösung ihrer Organisation ausgelegt werden. Damit würden sie sich strafbar machen. #Belarus2021

Wie viele Migrantinnen und Migranten sich zur Zeit unter prekären Bedingungen im belarussisch-polnischen Grenzgebiet aufhalten, ist nicht bekannt. Ein betroffener Migrant schickte mir diese Bilder und schrieb, dass sie seit sechs Tagen im Wald leben würden.

Trotz der Gefahren versuchen die Menschen weiter über die Grenze in die EU zu kommen. Am vergangenen Wochenende unternehmen Ali und seine Freunde ihren vierten Versuch. Er ist vor der Abreise aus Minsk guten Mutes und schreibt: «Inshallah we will meet in Germany».

In der darauffolgenden Nacht schickt Ali eine besorgniserregende Sprachnachricht.Übersetzt: «Wir sind in einem Wagen der belarussischen Grenzwächter. Sie haben uns im Grenzgebiet festgesetzt und wir vermuten, dass sie uns an die Grenze zu Litauen bringen wollen.» Foto: Symbolbild

Ali schildert, dass die Grenzwächter sie in den Wagen gelockt hätten mit dem Versprechen ihnen einen Ort zu zeigen, an welchem die Grenze zu Polen leicht überschritten werden könne. Die Zusicherung der belarussischen Grenzwächter stellt sich jedoch als Lüge heraus.

Es gelingt Ali von unterwegs ihren Standort mit mir zu teilen. Zuerst erreichen mich Koordinaten aus Belarus. Wenige Stunden später Koordinaten aus Litauen. Die Erfahrungen von Ali und seinen Freunden widerlegen den offiziellen Standpunkt der belarussischen Regierung.

Lukaschenko streitet seit Monaten die Vorwürfe ab, dass es sich um eine künstliche vom belarussischen Staat geschaffene Migrationskrise handelt.Siehe Video. Doch ohne Befehl von Lukaschenko würde kein belarussischer Grenzwächter Migranten von einer Grenze zu einer anderen fahren.

Das Fazit meiner Reise nach Belarus ist eindeutig:
Der amtierende Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, betätigt sich als Schlepper.

Zurück zu Ali: Die Odyssee von ihm und seinen Freunden endete nicht in Litauen. Litauische Grenzwächter schickten sie zurück. Es gibt viele Augenzeugenberichte von Zurückweisungen nach Grenzübertritt, sowohl in Polen als auch in Litauen. Ein Verstoss gegen Europäisches Recht.

Zurück in Belarus verstecken sich Ali und seine Freunde vor belarussischen Grenzschützern im Wald, bis sie sich eine Fahrt zurück nach Minsk organisieren können. Versuch Nr.4 über die Grenze in die EU zu gelangen, ist gescheitert. Aufgeben wollen sie trotzdem nicht. Ali schreibt:

Die Lage in Belarus scheint sich zuzuspitzen, gemäss diesen Bildern aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet. Eine grosse Gruppe von Migrant/innen soll in diesen Minuten unterwegs sein an die Grenze zu Polen im Gebiet südlich der Stadt Grodno. Quelle: @Motolko

Die Migrant/innen werden von belarussischen Sicherheitskräften «begleitet», wie diese Bilder zeigen. Dabei soll es sich gemäss der Bildquelle @Motolko mutmasslich um Mitglieder einer bewaffneten Spezialeinheit der belarussischen Grenzwache handeln. #Belarus2021

Die Migrant/innen haben in der Zwischenzeit die Strasse verlassen und sind zu Fuss weiter durch ein Waldstück bis zur Grenze mit Polen. Dort hätten einzelne Migranten versucht den Zaun zu durchbrechen, worauf von polnischer Seite Pfefferspray eingesetzt wurde. Quelle @Motolko

Unterwegs in #Polen in Richtung Grenze mit #Belarus. In der Nacht auf heute soll es zwei grösseren Gruppen von Migrantinnen und Migranten gelungen sein über die EU-Grenze nach Polen zu gelangen.

In einer polnischen Ortschaft wenige Kilometer von der Grenze mit #Belarus entfernt, herrscht eine surreale Stimmung. Durch das Dorf gehen nebst Pensionären und Spaziergängern auch Reihen von bewaffneten Soldaten und Spezialeinheiten des Grenzschutzes.

Weiter im Landesinnern von Polen traf ich heute Youssuf aus Syrien. Die Verletzungen im Gesicht: Stiefeltritte eines belarussischen Grenzwächters. Wahllos habe dieser getreten. Youssufs Identität vor Ort zu überprüfen - unmöglich, da Polizei in Polen die Pässe eingesammelt habe.

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