Heute vor 23 Jahren wurde mein Sohn geboren. Es war irgendwie das Finale und gleichzeitig der Auftakt von/zu schweren Zeiten, die dennoch viele helle Momente enthielten. Ich (24 Jahre), hatte eine knapp 2jährige tolle Tochter u war schwanger mit Zwillingen, bis zur 25SSW alles ok
Noch im Urlaub ging ich zu einem Arzt, denn ich hatte Kontraktionen, Schmerzen im Rippenbogen und spürte, hier läuft etwas massiv schief. Der Arzt maß den Flow (Durchblutung) sagte nichts, fragte nur, wann ich heim reise und nahm mit das Versprechen ab, sofort zum Arzt zu gehen.
Noch am Abend meiner Heimkehr setzten Blutungen ein. Ich rief mir einen Krankenwagen, sagte dem Mann Bescheid und stand mit meinem Rucksack auf der Straße. Ich wollte nicht, dass sie klingeln, schließlich schlief das Töchterchen. Ich werde nie das Gefühl vergessen, was ich dort
wartend hatte. Nach über einer Woche Unklarheit würde es nun Klarheit geben. Es war so etwas wie traurige Akzeptanz. Es gab kein wenn und aber mehr, nur noch ein "ich muss nehmen, was kommt". Die Diagnose war schnell gestellt: Fetofetales Transfusionssyndrom. Aufnahme auf Station
Es gab im folgendem noch 2x dieses oben beschriebene Gefühl: als am 17.06. Anton in meinem Bauch starb und als am 20.06. mein verbliebener Sohn plötzlich massiv Wasser eingelagert hatte und der sofortigen Kaiserschnitt beschlossen wurde. Ich war an diesem Tag in 28+3SSW.
Um 14:14 Uhr wurde er geboren und sofort primär beatmet. Er hatte ein akutes Nierenversagen, war schwach, brauchte mehrere Bluttransfusionen. Mein Mann begleitete ihn auf die Neo-Intensiv und ich lag voll Midazolam im Aufwachraum. Mein Mann beschreibt heute noch, wie komisch es
war mit mir zu sprechen. Sohn wurden wenig Überlebenschancen eingeräumt und ich liege kichernd im Bett.
Später dann, als alle anderen ihre Kinder zum Stillen gebracht bekamen, weinte ich, lange und einsam, Sehnsucht nach der Tochter, Trauer um Anton und die Vorstellung mein Baby
liegt nun ebenso allein und leer im Inkubator und könnte ebenfalls jeden Moment sterben. Und ich kann nicht bei ihm sein. Damals befanden sich Frauenklinik und Neonatologie noch an getrennten Standorten, keine Chance für mich dort hin zu kommen an diesem Tag.
Am 3. Tag fragte man uns nach Nottaufe. Ich wollte es nicht, denn an diesem Punkt hatte ich keine Akzeptanz in mir. Es kam mir vor wie aufgeben. Seine Nieren arbeiteten nicht, eine Dialyse hätte ihn umgebracht und so saß mein Mann jeden Tag in seiner Mittagspause an seinem
Inkubator und sang im Lieder von rauschenden Bächen u großen Seen vor, förmlich um dieses kleine Wesen zu animieren doch bitte endlich zu pullern. Ich ließ mich früh und Nachmittag zu ihm fahren, und doch gab es 5 Tage lang, keine guten Nachrichten, nur ehrliches Erstaunen, dass
er noch lebte. An seinem 5. Lebenstag besuchten ihn Vormittags meine Schwiegereltern. Ich kam dazu und sie weinten und klagten, oh Gott wie schrecklich. Ich sah meinen Sohn und merkte, es ist etwas anders. Er hatte nicht gepullert, aber ich spürte Leben in ihm und überhaupt, es
ist mein Baby und das Gegenteil von schrecklich. Ich zeigte ihnen die kleinen Hände, die niedlich geschwungenen Lippen, die perfekten kleinen Ohren. Es war wieder ein sehr skurriler Moment. Am Nachmittag rief mein Mann an. ER HATTE GEPULLERT. Die Nieren sind angesprungen.
Er war insgesamt 4 Wochen voll beatmet. Er bekam keine Infektion. Er schaffte es sofort im ersten Extubationsversuch selbstständig zu atmen. CEPAP brauchte er nur wenige Tage. Dank einer tollen Schwester bekam ich ihn auch mit Tubus schon (ich weiß, heute normal) zum kuscheln.
Zuhause gaben wir uns 3 M. lang nur die Klinke in die Hand. Mann arbeitete, ich beim Sohn, in seiner Mittagspause trafen wir uns auf Station, nachmittags holte ich das Töchterlein ab und ging auf dem Spielplatz, Abendessen gemeinsam, dann ich auf Station, Mann brachte T. ins Bett
Im September bekamen wir ihn nach Hause. Wenn man überlegt, dass wir seit Mai nicht mehr komplett als Familie waren, war das einfach unglaublich. Auch für meine Tochter, war es keine leichte Zeit. Wir alle haben unser Bestes gegeben und hatten doch eine Menge zu verarbeiten.
Auch die folgende Zeit war nicht leicht, aber voller Hoffnung u schöner Momente. Ich turnte täglich mit im nach Vojta, die tolle Physiotherapeutin sagte immer, wenn er an seinem 1. Geburtstag in den Vierfüßlerstand kommt, ist alles gut. Und exakt vor 22Jahren war es soweit.
Mit 2 Jahren kam das Asthma , mit 4 Jahren kam die Epilepsie, die Nieren schweben heute noch mit eingeschränkter Funktion wie ein Damoklesschwert über uns. Der Autismus und seine Unruhe sind dagegen harmlos. Vielleicht macht genau diese Art Dinge zu verarbeiten ihm zur Frohnatur.
Und heute: Er ist ein erwachsener Mann, mit ausgeprägten Interessen. Er hat einen Realschulabschluss und beendet gerade seine Ausbildung als Fachpraktiker Lagerlogistik. Er ist ein ehrlicher, zuverlässiger, liebenswerter, meist fröhlicher junger Mann. Er lebt in seiner eigenen
Wohnung, hat einen besten Freund und widmet sich voll Hingabe seinem Hobby: Musicals - besonders "Epic", übersetzt die englischen Lieder mit Versmaß ins deutsche und reist mit Opa zu Musical Aufführung. Ich bewundere ihn aber auch uns alle für dass, was hinter uns liegt.
Warum ich das schreibe, weiß ich auch nicht so genau. Irgendwie ist es eine Art öffentliches Gedenken. Das oben beschriebene Gefühl der Akzeptanz, das Bewerten von Klarheit als aushaltbarer als Unklarheit, ohne Hoffnung aufzugeben, denn ein grundsätzliches "es wird schon"
trug und trägt mich.
Seit Jahren summt in meinem Kopf ein Zitat aus einem Hildegard Knef Lied: "Das es gut war, wie es war, das weiß man hinterher. Das es schlecht ist, wie es ist, das weiß man gleich." (17 Millimeter)
Ende
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