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Nov 18, 2020 33 tweets 13 min read Read on X
#20JahreAltpapier: Was war das Vorbild der Medienkolumne? Und welchen Medienjournalismus braucht die redaktionelle Gesellschaft? Von Thomas Schuler
.@altpapier @MEDIEN360G @sprechstelle @ChrBartels @niggi @mdrde @klaus_raab @ralfheimann @renemartens @sip_media @daniel_bouhs
Vor 20 Jahren habe ich die Online-Medienkolumne dasaltpapier.de entwickelt. Sie wird jetzt vom MDR finanziert und darf dennoch (oder gerade deshalb) auch MDR und ARD kritisieren. Was würde ich heute entwickeln, um den Medienjournalismus voran zu bringen?
Es ist nun fast zehn Jahre her, dass sich in einer Journalistenschule in Florida ein bizzarer Skandal abspielte, wie er im Journalismus eben hin und wieder passiert. Der einflussreiche Blogger Jim Romanesko en.wikipedia.org/wiki/Jim_Romen… wurde des Plagiats verdächtigt.
1999 hatte der Journalist aus seiner Einzimmer-Wohnung im Mittleren Westen heraus einen Blog über Klatsch aus Redaktionen gegründet, der frühmorgens erschien und bald Pflichtlektüre und Tagesgespräch Tausender Journalisten im ganzen Land war.
In Mediagossip, so der Name der Kolumne, enthüllte Romanesko: Welche ChefredakteurInnen standen vor dem Rauswurf? Welche Gehälter genehmigten sich Verlagsmanager während sie Mitarbeiter entließen? Solche Dinge, verlinkt mit internen Memos.
Wenige Monate später kaufte das Poynter Institut den Blog und machte Romanesko zum bestbezahlten Mitarbeiter. Manche rümpften die Nase, ob Klatsch die richtige Gesellschaft sei für das renommierte Institut, das sich sonst um Ethik und Glaubwürdigkeit im Journalismus sorgte.
Zwölf Jahre blogte Romanesko für das Poynter Institute. Die Plagiats-Vorwürfe bedeuteten sein Aus. Der Skandal und die Folgen waren der New York Times mehrere Artikel wert. Vielleicht, weil Romanesko angeblich mehr als 170.000 Dollar im Jahr verdiente.
Vielleicht, weil sich alle der Ironie bewusst waren: der Mann, der über Aufstieg und Fall berichtet und beeinflusst hatte, erlebte nun das, was er immer beschrieb. Manche staunten, andere freuten sich still. Einige verteidigten ihn, denn die Umstände waren durchaus fragwürdig.
Er hatte Quellen verlinkt, aber vor Textausschnitten keine Anführung gesetzt. Es war also tw unklar, ob Texte von ihm oder direkt von verlinkten Q. kamen. Plagiat? Eine journalistische Todsünde? Das Poynter Institute schien das so zu sehen, obwohl es dies jahrelang geduldet hatte
Ob das darüber berichtete, lässt sich leider nicht prüfen, weil die Kolumnen von 2011 nicht online stehen. Vor 20 Jahren als Kolumne der Netzeitung gestartet, der ersten Onlinezeitung hierzulande, ist das #Altpapier mehrfach umgezogen und erscheint aber immer noch werktäglich.
Warum auch sollte das Altpapier 2011 Notiz nehmen von Romaneskos Ende? Die Altpapier-AutorInnen hatten gewechselt und sie wussten gar nicht, was Romanesko mit der Geburt ihrer eigenen Kolumne im November 2000 zu tun hat.
Ich war damals nach mehreren Jahren in New York, wo ich an der Columbia Journalism School auch Grundlagen des Online-Journalismus gelernt und für die Süddeutsche Zeitung in den 90er Jahren viel über Medien berichtet hatte, zur Berliner Zeitung gewechselt.
Wenn ich nicht über Bertelsmann und deren Legende vom Widerstandsverlag schrieb, dann über Rupert Murdoch, Tina Brown, die New York Times und ähnliche Größen der US-Medien.
Natürlich las ich Romanesko. Als der ehem Chefred der Berliner Zeitung, Michael Maier, fragte, ob ich einen Medienteil für die Netzeitung konzipieren und betreuen möchte, sagte ich zu, um einen Blog über Medien zu entwickeln.
Ähnlich wie Romanesko. Das sollte das Herz des Medienteils sein. Es gab zwei Probleme.
Mein Schreibtisch stand in der Berliner Zeitung. Maiers Nachfolger Martin Süskind hatte mehrere Abwerbeversuche mitbekommen und fragte mich: „Wollen Sie mehr Geld?“ Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Nicht mehr Geld, aber mehr Freiheit.“
Dafür hatte ich meine Gründe: Ich war von der Süddeutschen Zeitung auch deshalb zur Berliner Zeitung  gewechselt, weil es mich reizte, in einer zu Bertelsmann gehörenden Zeitung kritisch über Bertelsmann zu berichten.
Meine Erfahrungen zeigten, wie schwer das ist und dass der Medienkonzern entgegen seiner PR intern Druck ausübte, um meine lästige kritische Berichterstattung zu verhindern.
Ja, es war möglich darüber zu schreiben, wie Bertelsmann die Wahrheit über die eigene Geschichte im Dritten Reich verdrehte, und das Jahre bevor eine Historikerkommission, SPIEGEL, SZ und andere darüber berichteten.
Aber es ging nur unter großem Druck. Ich kündigte meine Festanstellung und schrieb als Pauschalist – um unabhängiger zu sein und nebenbei auch für andere zu arbeiten: darunter die Medienkolumne „Offline“ für die ZEIT.
Als nun Maier anfragte, zögerte Süskind mit der Freigabe und hatte eine Bedingung. Ich durfte nur im Hintergrund gestalten und Texte nur unter Pseudonym veröffentlichen.
Ich entwickelte das Konzept des #Altpapiers und holte Christoph Schultheis von der taz ins Netzeitungs-Büro nahe der Friedrichstraße. Er war es, der in einer Sitzung der Kolumne den Namen gab.
Die Ironie und Gelassenheit, die der Name ausdrückt, prägte auch den Stil und Ton vieler seiner Kolumnen. Ohne ihn wäre das #Altpapier nicht das geworden, was es heute ist.
Heute wirkt es banal, auf die Verlinkung von Originaltexten als zentrales Element hinzuweisen. Aber die Eigentümer aus Norwegen verfolgten damals eine andere Strategie – das war das zweite Problem. Sie nannten Quellen, aber verlinkten nicht oder kaum auf Quellen.
Vermutlich hatten sie Angst, dass Leser, die man fortschickt, nicht zurückkehren. Daher war das Altpapier für sie ein Fremdkörper. Ohne die guten Zugriffszahlen hätten sie es vermutlich bald eingestellt.
Michael Maier wollte mit der Netzeitung eigentlich eine Zeitung ohne Journalisten machen, die ihren Namen veröffentlicht sehen wollen: shorensteincenter.org/wp-content/upl…
Zu den Stärken des Altpapiers zählen jedoch heute gerade die wechselnden AutorInnen und ihre Fachkompetenz. Schafft das Altpapier mit ihnen den Sprung zu einer Medienredaktion, die auch eigene exklusive Themen aufgreift?
Was würde ich heute tun, um den Medienjournalismus in der redaktionellen Gesellschaft voran zu bringen? Meine Erfahrung mit dem Fall des Fälschers Tom Kummer, die jetzt ebenfalls 20 Jahre zurück liegt,
berliner-zeitung.de/der-fall-kumme…
brachte mich darauf, dass solche Fehlentwicklungen nicht allein von außen korrigiert werden können, sondern zudem Aufklärung von innen benötigen. Die SZ hat das damals vorbildlich auf zwei ganzen Zeitungsseiten getan – als Reaktion auf meinen Artikel.
Was also würde ich heute tun, um den Medienjournalismus in der redaktionellen Gesellschaft voran zu bringen? Dazu mehr in @KontextWZ
kontextwochenzeitung.de/medien/503/iro…
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