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Mar 9 22 tweets 5 min read
Stromausfall in #Tschernobyl, und wieder Atom-Angst. Ich versuche mal einen Thread zur Einordnung. 1/n
Der 1986 explodierte Reaktor braucht keinen Strom, zB. um Brennstäbe zu kühlen. Es geht nicht um das, was Fukushima zur Katastrophe brachte: Stromausfall, fehlende Kühlung und Kernschmelze. In #Tschernobyl besteht keine unmittelbare Gefahr einer erneuten Explosion o.ä. ABER…
Über den explodierten Reaktorblock (der 1986 hektisch zubetoniert wurde) wurde 2016 ein supermodernes Hightech-Dach geschoben. Dieses „New Safe Confinement“ NSC kostete mehr als zwei Milliarden Euro. Wichtigster Geldgeber war die Europäische Bank für Wiederaufbau EBRD.
Das NSC wurde vor drei Jahren offiziell an die Ukraine übergeben. Es ist ein tonnenförmiges Metalldach, das von einer filigranen Stahlkonstruktion getragen wird, 36.000 Tonnen schwer, aber im Wesentlichen nur eine Schutzhülle, unter der Roboterarme, Kräne etc arbeiten und ...
...den zerstörten Reaktor samt seiner alten Betonhülle abtragen und entsorgen sollen (in Zwischenlager, irgendwann vielleicht Endlager) sueddeutsche.de/wissen/schon-g…
Das NSC soll 100 Jahre halten, aber anders als der alte Betonsarkophag, ist das neue Dach kein Tresor oder Bunker, den man ruhen lassen könnte. Das NSC ist eine Maschine, die ständig in Betrieb gehalten werden muss.
Zwei Beispiele: Unter dem Dach muss permanent Unterdruck herrschen, damit kein Staub und Radioaktivität in die Umwelt gelangt. Und die Luftfeuchtigkeit muss unter 40% gehalten werden, weil sonst die Trägerkonstruktion rostet und irgendwann alles einstürzt.
Der explodierte Reaktorblock war nur einer von insgesamt sechs Meilern des Kraftwerks. Zwei waren zum Zeitpunkt der Explosion noch im Bau. Drei gingen nach der Katastrophe von 1986 wieder ans Netz (auch Reaktor Nr. 3 im unmittelbaren Nachbargebäude des zerstörten Reaktors Nr. 4).
Es wurde im Kraftwerk Tschernobyl, das zu Sowjet-Zeiten „Lenin-Kraftwerk“ hieß, bis 2001 Strom produziert.
Das Kraftwerksgelände besteht also nicht aus einer verlassenen, alleinstehenden Reaktorruine, sondern ist ein riesiges Areal aus Dutzenden Gebäuden, Kühltürmen, Verwaltungsbauten, einem künstlichen See, toten Gleisen, Turbinen- und Reaktorgebäuden sowie unüberschaubar viel Müll.
Auf diesem Gelände arbeiteten bis zum Ausbruch des Krieges täglich 2000 bis 3000 Menschen: Techniker/innen, Verwaltungsleute, Wachleute, Kantinenpersonal etc. Die meisten fuhren mit der Bahn aus Slavutytsch an, eine Stadt nordöstlich des Kraftwerks.
Es gibt sogar eine Kantine. Als ich 2015 das Kraftwerk besuchte, gab es Hühnchen mit Karottensalat als Tagesgericht. Ein kleiner Strahlungstest auf dem Weg zur Kantine war so normal wie das Händewaschen vor dem Essen.
Die Bahnstrecke führt einige Kilometer durch Belarus, einer der Gründe, warum der Pendelverkehr unterbrochen ist. Auch hat die russische Armee die Kontrolle über das Kraftwerksgelände samt der 30-Kilometer-Sperrzone übernommen.
Die genaue Situation ist unklar, es spricht aber vieles dafür, dass einige hundert Arbeiter auf dem Gelände waren, als die Russen kamen, und nun dort gefangen sind. bbc.com/news/world-eur…
Bis zum Kriegsausbruch war nur ein Teil des Personals mit dem Betrieb des neuen Reaktordachs NSC beschäftigt. Die meiste Arbeit machen unzählige Tanks mit Flüssigkeiten auf dem gesamten Gelände, von denen niemand weiß, was das für Flüssigkeiten sind.
Viele der Flüssigkeiten sind radioaktiv. Hochrechnungen ergeben, dass noch jahrzehntelang aufgeräumt werden muss. Wohlgemerkt, nicht der explodierte Reaktor, sondern der ganz „normale“ Abfall aus Tagen, in denen Atomkraft genutzt und für sauber gehalten wurde.
Wer Atomkraft für eine saubere Angelegenheit hält, sollte nur einmal das Gelände besuchen. „Im Westen wäre das alles anders“? Ich finde, es sollte nicht vom wirtschaftlichen oder politischen Zustand eines Landes abhängen, ob sich eine Energieform zur Katastrophe entwickelt.
Aber zurück zu #Tschernobyl: Die große Gefahr besteht nun darin, dass in den Kriegswirren das milliardenteure NSC nicht mehr sachgerecht betrieben wird und seine Funktion verliert oder gar komplett ausfällt.
Dann wäre nicht nur der alte Zustand der Atomruine wieder hergestellt. Der Zustand, als ein verrottender, 1986 eilig betonierter Sarkophag die Außenwelt von den strahlenden Innereien des Unglücksreaktors bewahrte.
Ein Ausfall der neuen Schutzhülle könnte (abgesehen von 2 Milliarden verschleuderten Euro) zu einem noch schlimmeren Zustand führen: Unter dem Hightech-Dach wurde bereits mit dem Abbau der Reaktorruine begonnen...
Versagt das NSC, könnte mehr Strahlung entweichen als vor der Installation der neuen Dachs. 95 Prozent der strahlenden Materie blieben 1986 in dem Reaktorblock. Einige Isotope (Atomvarianten) sind zwar seither zerfallen. Andere strahlen noch Tausende Jahre. (unroll)

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