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Mar 28 23 tweets 7 min read
Mal abgesehen von der etwas unangenehmen urdeutschen Vorliebe für Friedenskitsch wäre Andrij Melnyks Konzertabsage – ungeachtet, wie man dazu steht – ein gelegener Anlass, um über Steinmeiers Russland-Politik zu reden.
Im September 2005 beschließt Kanzler Schröder den Bau von Nord Stream 1. Sein damaliger Kanzleramtschef: Frank-Walter Steinmeier. Das Projekt fällt in den damaligen Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland, das die vorteilhafte Preisbindung für Ex-UdSSR-Staaten gekappt hatte.
Bemerkenswert die zeitliche Nähe zwischen Entscheidungen: Zwei Monate nach der NS1-Verkündung löst Merkel Schröder als Kanzlerin ab, Steinmeier wird erstmals Außenminister. Im Dezember, keine 3 Monate später, wird Schröder Aufsichtsratschef von Gazprom.
Ebenfalls 2005 beklagt Putin in einer Rede den Zerfall der UdSSR. Der Wall Street Journal wird später schreiben, mit der Rede habe Putin das ukrainische Votum zur Unabhängigkeit 1991 in Frage gestellt. wsj.com/articles/SB100…
2006 vor dem Deutsch-Russischen Forum übernimmt Steinmeier Putins Wording, wonach dieser sich "zu gemeinsamen Wurzeln, gemeinsamer Kultur und gemeinsamer Zukunft" bekenne. Von "Vereinigung" Russlands und Europas ist die Rede. bundesregierung.de/breg-de/servic…
Steinmeier sagt, Russland brauche "Rückhalt" beim "schwierigen Weg hin zu Marktwirtschaft und Demokratie“, sei "in Europa willkommen" und für Deutschland "ein unentbehrlicher Partner". Letzteres wird er mehrmals wiederholen.
Auch bemerkenswert dieses Zitat: "Im Dreieck EU-Russland-Ukraine müssen die drei Seiten möglichst gleich lang sein [...] Die Voraussetzung ist allerdings, dass alle Seiten aufhören, in traditionellen Einflusssphären und in Kategorien geopolitischer Rivalität zu denken."
2007: Steinmeier spricht sich gegen ein Raketenabwehrsystem der NATO in Osteuropa aus. Man solle "vorher mit Russland reden", da sich der Kreml von der Stationierung von Abwehrsystemen in Osteuropa provoziert fühlen könne.
2007: Steinmeier distanziert sich von Kritik des Kanzleramts an Russland, bescheinigt "hohes Maß an Stabilität". Deutschland müsse mit Russland ein gedeihliches Verhältnis entwickeln. Medwedew stehe mehr als andere für "westliche Orientierung und wirtschaftliche Modernisierung".
2008: Rede in Jekaterinenburg "für deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft". Im gleichen Jahr beginnt Russland Übungen im Asowschen Meer und will mit Polen über eine Teilung der Ukraine verhandeln (rb.gy/jlr0j7). 3 Monate später bricht der Georgien-Konflikt los.
2009, Steinmeier in Moskau: "Heute können wir sagen: Die Zeiten gegenseitiger Verklärung und Dämonisierung sind ein für allemal vorbei", "strategische Partnerschaft trägt Früchte". auswaertiges-amt.de/de/newsroom/09…
2013: Zweite Amtszeit als Außenminister. Eine Einladung von Klitschko, auf dem Maidan zu sprechen, schlägt Steinmeier aus. Es überfordere das Land, "wenn es sich zwischen Europa und Russland entscheiden muss."
2014 und 2015 herrscht Krieg. Normandie-Format, Weimarer Dreieck, Gesprächsformate der Spitzendiplomatie. Steinmeier findet klare Worte, es werden Sanktionen verhängt, nur blöd, dass der Kreml jetzt Tatsachen schafft.
2016: Deutsch-Russisches Forum. Steinmeier plädiert, "wieder stärker auf Dialog zu setzen", die Krim-Sanktionen zu lockern. Derweil bricht Russland mehrmals Waffenruhe in Ostukraine. Kiew zeigt sich zunehmend frustriert. auswaertiges-amt.de/de/newsroom/16…
2016 führt die Nato Truppenübungen an der Ostflanke durch, für Steinmeier "symbolische Panzerparaden". Der Außenminister weiter: "Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen."
sueddeutsche.de/politik/nato-i…
2017: Steinmeier reist zu Putin. In einem Interview erwähnt er die Annexion der Krim, sagt aber auch, es gehe darum, "Wege aus der Negativspirale von Konfrontation, Vertrauensverlust und Vorwürfen zu finden." Das einzige, was helfe, sei "reden". tagesspiegel.de/politik/bundes…
2018: Der Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal sei besorgniserregend. "Aber mindestens ebenso muss uns die galoppierende Entfremdung zwischen Russland und dem Westen besorgen, deren Folgen weit über diesen Fall hinausgehen." deutschland.de/de/topic/polit…
Interessant auch diese von Wulf Schmiese überlieferten Anekdoten über die Reise von Steinmeier und Merkel nach Samara 2007: cicero.de/aussenpolitik/…
2021: Steinmeier nennt Nord Stream 2 die "fast letzte Brücke zu Russland", spricht sich gegen einen Baustop aus. Weil "mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen UdSSR" im Krieg fielen, dürfe man "das größere Bild nicht aus dem Blick verlieren." bundespraesident.de/SharedDocs/Red…
Im Juni 2021 will Steinmeier dem 80. Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR gedenken. Aus "Sicht der Ukrainer ein Affront" (Melnyk), "bedauernswert und befremdlich zugleich", weil undifferenziert Kontinuitäten zwischen UdSSR und Russland gezogen würden. rbb24.de/politik/beitra…
2022 überfällt Russland schließlich die Ukraine. Steinmeier bescheinigt "Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung", "Selbstbestimmung", "Souveränität". Putin solle die Stärke der Demokratien nicht unterschätzen. Man stehe an der Seite der Ukraine.
Das Problem an dieser ganzen Haltung: Jeder ist sich einig, dass Reden besser als Schweigen und Verhandeln besser als Schießen ist – wenn diesen vermeintlichen Konsens aber nur eine Verhandlungsseite teilt, wirkt das rückblickend wie Vorführung auf diplomatischen Parkett.
Deshalb ist dieses merkwürdige Konzert nur das Symptom einer, vorsichtig gesagt, unglücklichen Russlandpolitik, die sich über Haltung und Symbolismus definiert – aber jahrelang wirtschaftliche Vorteile über berechtigte Sorgen der EU-Oststaaten gestellt hat.

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Mar 3
Während Russland gestern Abend Kharkiv zerbombte, Cherson einnahm und erneut Kiev angriff, versammelte sich die antiimperialistische Linke zu einer Demo, bei der einem übel werden konnte. Ein kleines Best-Of eines grotesken Abends im Wedding. #b0203
"Wer Putin zum Alleinschuldigen erklärt und die Vorgeschichte vergisst, macht sich zum Lakaien des deutschen Kapitals."
Nicht Russland ist Schuld am Krieg in der Ukraine, sondern indirekt der "Antikommunismus" nach dem Niedergang der UdSSR. Was sie euch aber verschweigen! Diese Leute leben in einem Wahn ohne Bezug zur Realität.
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Mar 2
Ich lese und höre in den letzten Tagen immer wieder, Putin sei "unberechenbar" und "verrückt", was das etwas absurde Bild eines sprunghaften Staatschefs zeichnet, der über Nacht die Impulskontrolle verloren und den nächstbesten slawischen Staat angegriffen hat.
Ich finde das, zumindest was den Angriff auf die Ukraine angeht, nicht überzeugend. Ein track record von Kriegen in angrenzenden Territorien (Tschetschenien, Georgien); spätestens die Annexion der Krim und Überfall im Donbas; die Lehren Aleksandr Dugins,
der mit "Foundations of Geopolitics" buchstäblich ein Playbook für die imperiale und invasive russische Außenpolitik formuliert hat, oder Iwan Iljins; etliche verbale Drohungen gegenüber Ex-UdSSR-Staaten; die Aussagen von Putins Chefideologen Wladislaw Surkow;
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Oct 22, 2021
Zum Stand der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland: Wer als Aktivist Islamismus kritisiert und dabei Mohamed-Karikaturen zeigt, muss hierzulande damit rechnen, gewaltsam angegriffen zu werden – ohne, dass jemand Anstoß daran nimmt.
Der Video stammt von letzter Woche, als eine kleine Gruppe um den Aktivisten Abbas Mohammadpoor in Stuttgart die Kundgebung "Demonstration gegen die islamische Republik und den Kampf gegen den politischen Islam" abhielt. Am Stand wurden irankritische Transparente gezeigt.
Weil die Demonstration auf den 16. Oktober fiel, und sich an diesem Tag die Ermordung des Lehrers Samuel Paty jährte, entschied sich die Gruppe allerdings auch, Mohamed-Karikaturen und Charlie Hebdo-Cover zu zeigen.
Read 11 tweets
Sep 6, 2021
Musste diesen Take von @rike_tweet 4 mal lesen, um zu verstehen, dass das völlig unironisch gemeint und wirklich journalistisch gewollt ist. Aber fangen wir von vorne an, denn Böhmermann und Busch zeigen, was aus meiner Perspektive in der Publizistik grundlegend falsch läuft.
Der ganze Böhmermann-Ansatz war schon kaputt, weil man schnell ahnt, dass "Menschenfeindlichkeit" nicht dem Ausschluss wirklicher Extremisten dient (was ich noch verstehen könnte), sondern beliebig erweitert wird, weil irgendwann alles "false balance" ist.
Diese Verengung des Meinungskorridors, so Busch, sollen "wir alle" uns brav "auf 1 Post-It schreiben" und "an den Bildschirm kleben", damit wir es ja nicht vergessen. Und für journalistische Formate nutzen, damit es auch Einzug hält in den deutschen Medienbetrieb.
Read 25 tweets
Jun 1, 2021
Eine absurde Entwicklung der Postmoderne: politische Linke, die Kritik an religiösem Extremismus aufgeben. Exemplarisch dafür dieser Thread eines Aktivisten, der über die gedruckte Schahāda auf Flaggen bei Pro-Palästina-Demos sinniert als sei sie ein Friedenstauben-Emoji.
Natürlich kann man sich fragen, ob ein Verbot der Hamas-Flagge zielführend ist. Man kann auch über die Geschichte der Schahāda nachdenken, Hamas-Wording zitieren ("Widerstandsgruppierung") und harmlose Stockfotos von Politikern raussuchen. Ist dann halt aber naiv.
Man könnte sich stattdessen aus einer emanzipatorisch-liberalen Perspektive fragen, welche Gruppierungen sich eigentlich ein islamisches Glaubensbekenntnis auf Flaggen ballern und nach außen tragen, um es als politisches Symbol zu nutzen.
Read 22 tweets
Apr 29, 2021
Da übermorgen 1. Mai ist: Wir brauchen in unserer Gesellschaft (und gerade im Bildungswesen) einen völlig neuen Umgang mit der UdSSR und den unmenschlichen Verbrechen, die im Namen des Kommunismus verübt wurden. Und jetzt folgt ein wütender Thread. Image
Während sich Jugendliche hierzulande gerne ein ☭ ins Profil heften und Tankie-Memes posten, weil die lokale Antifa ihnen eingeflüstert hat, dass die Rote Armee Deutschland befreite, hatten Menschen in der UdSSR reale Konsequenzen von Lenins, Trotzkis und Stalins Politik. Image
Diese Konsequenzen taugen allerdings weniger für ein romantisiertes Bild vom "Internationale"-pfeiffenden Sozialrevolutionär, sondern laufen (im best case) unter: "Großmutter, die ausgemergelt wurde" und "Urgroßvater, dem die Beine rausgeschossen wurden". (Bild aus den 1920ern) Image
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