Thread by @FrlLorilo

#17Juni
Mein Großvater Gustav wurde 1927 geboren. Er arbeitete in einer Fabrik in Thüringen. 1944, als 17jähriger wurde er eingezogen und geriet in russ. Gefangenschaft. Für ihn war der Krieg erst 1948 vorbei. Er fand eine Frau, sie heirateten und 1951 bekamen sie einen Sohn.

Er arbeitete weit weg von seiner Familie bei Gera unter Tage und versuchte für seine kleine Familie etwas aufzubauen, sodass sie bei den Schwiegereltern raus konnten. Über die Jahre in Russland sprach er nie, mit niemanden. Seine Mutter sagte, er wäre nicht mehr derselbe gewesen.

Am 17. Juni 1953, mein Vater war 2 Jahre alt, hörten die Arbeiter von Aufständen in den Städten. Mein Großvater war Brigadeführer und er erfuhr, dass einige aus seiner Brigade verhaftet worden waren. Sie fuhren mit mehreren LKW nach Gera und stürmten das dortige MFS-Gefängnis.

Mein Großvater und sein bester Freund Gerhardt wurden u. A. geschnappt und noch in derselben Nacht vor ein russisches Militärschnellgericht gestellt.
Sie wurden zu lebenslanger Haft in Sibirien verurteilt, ihren Familien teilte man erst sehr viel später mit, sie wären tot.

Gustavs und Gerhardts Strafe wurde in Sibirien auf 25 Jahre gemildert nach mehreren Jahren. Gustav hatte dann das Glück durch einen Gefangenenfreikauf der BRD 1960 aus Russland heimzukehren. Angekommen in Deutschland wurde er ohne Verhandlung oder Urteil noch einmal 2,5 Jahre ins

Gefängnis gesteckt. Nur Dank der Dickköpfigkeit meiner Großmutter, die von Pontius zu Pilatus rannte und immer wieder nervte, erfuhr sie irgendwann, dass er tatsächlich noch lebte und aber lebenslänglich in Russland bleiben muss. Umso größer die Freude, als er 1962 unerwartet kam

Mein Großvater trennte sich allerdings einige Zeit nach seiner Heimkehr von seiner Familie. Meine Tante wurde geboren, als der Vater schon in Russland saß und sah ihn das erste Mal, als sie 8 Jahre alt war, mein Vater das erste Mal mit 11 Jahren. Gustav konnte ihnen kein Vater

mehr sein. Er wollte wollte aufholen, er wollte die Schmach abstreifen, ganz neu anfangen.
Für meine Oma war es sehr schwer mit 2 Kindern, als Dissidentenfrau. Die Kinder wurden als "Zuchthäusler-Kinder" gemobbt, später bespitzelt von IMs des MfS, bis zum Ende der DDR.

Dadurch, dass er sich kurz vor seinem Tod noch von ihr scheiden ließ, weil er eine jüngere Frau heiraten wollte, erhielt meine Großmutter keine Witwenrente und musste mit einer klitzekleinen Rentezurechtkommen, obwohl sie fast ihr gesamtes

Leben lang gearbeitet hat im Einzelhandel. Sie hatte nach ihrem Mann nie wieder eine Beziehung und seit ich als Enkelin denken kann, war sie lebensunfroh, vielleicht depressiv.

Nun ist auch sie schon lange tot.

Gerhardt hatte kein Glück beim Freikauf der Gefangenen; er saß die vollen 25 Jahre ab. Als er 1978 endlich nach Hause kam, musste er festellen, dass seine Frau und Kinder im Glauben, er wäre tot, in den Westen gegangen waren, die Möglichkeit hatte er als Dissident natürlich nicht

Er wollte seinen besten Freund Gustav besuchen, musste aber feststellen, dass dieser bereits 1977, einige Monate zuvor - gerade mal 50jährig, verstorben war: Körperlich und seelisch ein Wrack. Das war 1 Jahr vor meiner Geburt.

Gerhardt nahm sich kurze Zeit später das Leben.

Heute ist der Tag ihnen allen zu gedenken: Gustav und Gerhardt, aber auch ihren Frauen und Kindern, die alle litten.

Irgendwo in diesem Komplex um den #Volksaufstand in #Gera findet sich die Geschichte von Gustav und Gerhardt von der #Wismut.
stasi-unterlagen-archiv.de/geschichten/vo…

Laut Gerhardt, mit dem mein Vater 1978 sprach, waren sie beide bestenfalls Mitläufer, wurden aber als Rädelsführer verurteilt.

Ich hatte die Geschichte 2020 schon einmal aufgeschrieben, sie jedoch versehentlich beim heutigen Retweeten gelöscht.

@threadreaderapp: Please unroll.

Wenn ich sehe, wie insbesondere rechtes Gesindel und konservative und "liberale" Politiker versuchen, am heutigen Tag mit den Namen der Opfer des #Volksaufstandes Likes zu erhaschen und ihre pol. Agenda mit diesen Menschen zu verknüpfen, wird mir speiübel.