Die HU-Debatte um Sex/Gender hinkt an zwei Stellen, und dieses Hinken hängt jeweils an Fragen der Definition. 1. Man kann das biologische Geschlecht (Sex) gametisch, genetisch oder systemisch verstehen.
Vollbrecht hat ein gametisches Verständnis von Sex: weiblich = grosse Keimzellen (Eizellen); männlich = kleine Keimzellen (Spermien). Aus dieser Anisogamie (nicht-gleiche Gameten) folgt strikte Binarität. #Vollbrecht#HumboldtUni#Biologie#gender
Früher galt auch ein genetisches Verständnis von Sex (XX vs. XY) als binär, ist aber im Licht heutiger Entwicklungsbiologie eher bimodal zu denken (weibl. - männl. als „typisch“, aber mit Möglichkeiten untypischer, dennoch natürlicher/„normaler“ Varianten).
Ein systemisches Verständnis von Sex schliesslich kombiniert das moderne genetische Verständnis mit hormonalen und neuralen/zerebralen Faktoren und rückt es noch ein Stück weiter aus der Binarität fort. Dieses Verständnis vertrete ich in meinem Aufsatz vom Dienstag
und stelle es ins Licht einer prozessualen Ontologie der Biologie (ähnlich John Dupré, Univ. Exeter) – das ist die philosophische Ebene meiner Argumentation. Man hat dann ein „multivektorielles Geschlechtern“ vor sich, mit der Möglichkeit verschiedenster geschl. Mischdynamiken.
2. Auf der jeweils tiefsten biologischen Ebene muss man sich also entscheiden zwischen gametischer und genetischer Sex-Definition. Dahinter steht, evolutionär, eine komplexe Henne-Ei-Frage (Diskussion um Origins of Sex, RNA-World, Multizellularität, Gene Transfer etc.).
Meiner Ansicht nach sollte eine _moderne genetische_ Definition grundlegend sein, denn nur sie eröffnet den Blick auf die individuelle Entwicklung von der Zygote zum menschl. Individuum, ohne die sich die Geschlechterproblematik nicht verstehen/ gesellschaftlich handhaben lässt.
3. Worüber wir reden und streiten, hängt ab davon, wie wir „Geschlecht“ verstehen. Vollbrecht versteht Geschlecht als biologisch-gametisch; klassische Gender-Theoretiker wie Judith Butler verstehen Geschlecht als sozial konstituiert. Beide Verständnisweisen sind legitim und
gut begründbar, aber sie führen zu grundverschiedenen Begriffen von Geschlecht und kollidieren miteinander (wie man derzeit sieht).
4. Ich plädiere dafür, Geschlecht in einem übergeordneten Sinne zu verstehen, wie es heute sowieso zunehmend getan wird. Geschlecht ist Sex PLUS Gender. Und genauer: Geschlecht ist _systemisch_ verstandenes Sex plus (sozial verstandenes) Gender (s.o. 1. und 2.).
Die deutsche Sprache hat hier für ein Mal den Vorteil, diesen dritten Begriff („Geschlecht“) bereitzuhalten, neben „Sex“ und „Gender“.
5. Mein Artikel ist von manchen Gegnern so gelesen worden, als argumentiere er für eine völlige Beliebigkeit von Geschlecht. Dabei mache ich schon im ersten Absatz deutlich: Ich wende mich nicht gegen „weiblich vs. männlich“
(mit denen ist es kompliziert, wie im Fortgang des Textes klar wird), sondern gegen eine andere (falsche) Dichotomie, nämlich „Sex vs. Gender“. Denn zwischen diesen beiden gibt es mehrere Interfaces, vor allem natürlich das hormonale System und das Gehirn
(man könnte auch manipulierende Interventionen als weiteres Interface sehen). Von diesen Interfaces handelt mein Stück, und die Konzeption für den übergeordneten Begriffs von Geschlecht (also Sex PLUS Gender) ist wiederum eine
des „multivektorielles Geschlechterns“ – ein Prozesszusammenhang, der sich gleichermassen durch biologische wie soziale Aspekte von Geschlecht hindurch erstreckt.
Der Artikel (heute auch im Print in der Wochenendausgabe) ist, soweit ich sehen kann, der meistdiskutierte der vergangenen Woche in der @berlinerzeitung. Hier auf twitter hat er einen mittelgrossen Shitstorm generiert von Seiten der strikten Binaritäts-Verfechter,
andererseits hat er viel Zuspruch gefunden bei Personen, die für Geschlechterfragen sensibilisiert sind (aus der Geschlechterforschung, aber nicht nur).
Insgesamt hat das Stück stärker polarisiert, als ich erwartet hatte – denn eigentlich sollte solch ein framework anschlussfähig für beide Parteien sein. Ein Zeichen, denke ich, dass die Debatte noch nicht zu Ende ist. berliner-zeitung.de/politik-gesell…
Zum Abschluss drei Literaturtips: 1. Sexualität und Reproduktion könnten auch biologisch-evolutionär weniger eng zusammenhängen als meist angenommen: quantamagazine.org/why-sex-biolog…?
2. Der oft zitierte Artikel von @ClaireAinsworth , der aber ebenfalls keine (!) Argumentation gegen die Konzepte "weiblich/männlich" ist (er stellt sie abe in den Zusammenhang der Entwicklungsbiologie -> Komplexität): nature.com/articles/51828…
3. Für eine starke, sehr gut argumentierte Position (dennoch hätte ich auch ein-zwei Einwände) eines der derzeit wichtigsten Bio-Philosophen: John Dupré, A Postgenomic Perspective on Sex and Gender researchgate.net/publication/27…
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📸📸📸Leder, klar. Und Darmsaiten für Streichinstrumente, und Talglichter. Und, allerdings nicht-letal: Daunendecken, Wollsocken und so weiter. 🧵
Rezente, also nicht fossile Tierprodukte haben eine bedeutende kulturbildende Rolle gespielt. Was einem aber selten bewusst ist, ist etwas, das sich aus der Geschichte der Moderne eigentlich gar nicht wegdenken lässt: die Fotografie.
Keine Fotografie ohne Gelatine, ein Produkt aus Säugertierknochen, -knorpel und -haut.
Es gab vorher Technologien mit Kollodium (pflanzliche Nitrozellulose in organischen Lösungsmitteln) und Hühnereiweiss (Albumin),