Es ist doch einigermaßen interessant. Es werden aktuell parallel zwei Debatten geführt, die im Kern dasselbe Problem haben. Nämlich ein Problem, das u.a. in der Erinnerungskultur zu suchen und zu finden ist. Viele glauben, es reicht, sich erschrocken in die Vergangenheit 1/x
zu wenden und zu verurteilen, was die Eltern-/Großeltern-/Urgroßelterngeneration getan hat. #NieWieder und so. Was aber Vielen fehlt ist die Anbindung an diese Zeit. Es gab keinen Bruch nach dem NS. Es hat nie einen gegeben. Es gab einen Wandel. 2/x
Der hat sich weder in allen Teilen gleichzeitig,noch gleichmäßig vollzogen. Viele versuchen, mit dem Verstand zu begreifen, was die industrielle Massenvernichtung von Jüdinnen/Juden, Sinti:zze und Romn:ja, von psychisch kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen bedeutet 3/x
Was Rassismus, Antisemitismus und Antislawinismus bedeutet haben. Aber es ist das Herz, das begreifen muss. Das klingt vielleicht pathetisch. Aber wer das Grauen nicht an sich ran lässt, wer nicht nachspürt, was das für Generationen danach noch bedeutet, wird nichts verstehen 4/x
Auch ich hab ewig gebraucht, um das zu begreifen. Ein Beispiel? Mein Opa wurde in der Haft gefoltert. Mein Vater, geboren 1931, weiß davon. Er sieht seinen Vater ein letztes Mal im Sommer 1943. Da hat er ihn 1,5 Jahre nicht gesehen. So ungefähr sah er 1942 bei Verhaftung aus. 5/x Erkennungsdienstliches Foto von Theo Hespers aus dem Frühja
Als mein Vater seinen Vater im Sommer 1943 im Gefängnis Plötzensee wiedersieht, ist er extrem abgemagert (er bittet seine Familie, eine Hose am Bund um 40 cm einzunähen) und hat eisgraues Haar. Ich will für meinen Podcast mit meinem Vater über die Haftbedingungen sprechen, 6/x
nachdem ich die Verhörprotokolle gelesen habe. Er erzählt mir von psychischer Folter. Ich will das genauer wissen, weil ich im Dokument Hinweise auf körperliche Folter gefunden habe. Mein Vater antwortet in so einem heftigen und eindringlichen Ton, dass ich erschrecke: 7/x
"Nichts zu essen, kein Licht, ist das nicht Folter genug?" fragt er. Seine Worte sind wie eine Ohrfeige. Was hab ich denn gedacht? Wie unerträglich muss das für ihn sein, diese Erinnerung wachzurufen? Wie unerträglich, dass ich da auch noch - ganz Journalistin - nachbohre, 8/x
als wären Isolationshaft und Nahrungsentzug nicht schlimm genug, um entsprechende Empathie hervorzurufen. Erst da hab ich wirklich begriffen, was es heißt, mit einem traumatisierten Menschen zu sprechen. Dass mein eigener Vater ein traumatisierter Mensch ist. 9/x
Und dass meine Fragen wirklich unsensibel sind. Das ist es, was wir begreifen müssen, bevor wir solche Gespräche führen. Über Genozid. Aber auch über Rassismus. Ich hab mich in der Situation wirklich dumm gefühlt. Aber anders als früher hab ich mich nicht verteidigt. 10/x
Ich hab stattdessen das Thema gewechselt. Was nicht wirklich besser ist. Aber ich habe das erste Mal verstanden, wie tief der Schmerz ist. Nicht mit dem Kopf. Mit dem Herzen. Und dass das von mir ein anderes Vorgehen verlangt in solchen Gesprächen. 11/x
Wenn wir mit Gewaltbetroffenen sprechen, müssen wir zum einen wirklich sensibel sein. Zum anderen müssen wir aushalten, dass sie heftig reagieren, wenn wir Grenzen überschreiten. Denn es geht um nicht weniger als ihr Leben. Nicht im metaphorischen Sinne. Sondern ganz real. 12/x
Können wir sie deshalb nicht kritisch befragen? Doch, natürlich können wir das. Aber es ist eine Frage des Fingerspitzengefühls. Und grundlegende Fakten müssen einfach anerkannt sein. Und wenn wir da Fehler gemacht haben, dann müssen wir auch das: Anerkennen, 13/x
dass wir einen Fehler gemacht haben. Klar, ist nicht leicht. Aber wir sind in einer verdammt priviligierten Situation uns diese Art von Fehlern überhaupt erlauben zu können. Und das sollte uns einigermaßen demütig machen. 14/14

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Aug 15
Lest diesen Thread 🧵
Und auch, wenn ich nicht alles rund um dieses Gespräch und die vorhergegangene Diskussion mitbekommen habe, erinnert mich das an eigene Erfahrungen, die mit dem SWR und seiner Kommunikation gemacht habe. 1/x
Nämlich in Bezug auf die Kritik an dem Projekt "Ich bin Sophie Scholl". In den Kommentarspalten gab es damals viel Empathie für diejenigen, die über die schlimmen Erfahrungen ihrer Opas berichtet haben, die für die Wehrmacht an der Ostfront kämpften. Auf Kritik reagierte man 2/x
deutlich weniger empathisch. Als Nachfahrin eines im NS ermordeten Widerstandskämpfers hatte ich den Eindruck, dass es weder in der Redaktion noch vom Social Media Team Wissen darüber gab, was das eigentlich bedeutet, wenn in der eigenen Familie ein Mensch ermordet wurde. 3/x
Read 8 tweets
Jul 27
Im Rahmen von Erinnerungskultur geht es weniger um die Schuld nachfolgender Generationen, sondern vielmehr um Verantwortung. Dafür muss man sich aber mit dem auseinandersetzen, was zwischen 1933-45 passiert ist. Gilt auch für Unternehmen. Deshalb hier ein 🧵 zu Porsche/VW 1/x
Als Quelle dazu dient mir das im Mai 2022 beim @KiWi_Verlag erschienene Buch "Braunes Erbe" von @davidthejong.
Zunächst: Alle Verantwortlichen des Porsche-Piëch-Clans waren Mitglieder der NSDAP, der SS oder beider Organisationen. 2/x
Hier insbes. Ferdinand Porsche, sein Sohn Freddy Porsche und sein Schwiegersohn Anton Piëch. "Die jeweiligen Patriarchen der Familien legten den Grundstein für ihr 'braunes Erbe'." (S. 26)

Gründer von Porsche: Ferdinand Porsche(80%), Anton Piëch(10%), Adolf Rosenberger(10%) 3/x
Read 27 tweets
Feb 21
Am 21. Februar 1931 erblickt ein kleiner, propperer Junge das Licht der Welt in Mönchengladbach. Er wird auf den Namen Dietrich Franz getauft. Dieser kleine Junge wird einmal mein Vater werden. Klar, das weiß er da noch nicht. Und bis dahin wird auch noch viel Zeit vergehen 1/25
Denn erstmal wird er im Sommer 1933 mit seiner Mutter Deutschland verlassen müssen, weil sein Vater, mein Opa Theo Hespers, sich mit den Nazis angelegt hat. Theo Hespers, geb. am 12.12.1903 war schon weit vor 1933 kein Freund der Nazis. Er kritisierte die NSDAP, der auch 2/25
einige seiner Freunde und Bekannten in Mönchengladbach angehörten. Als "Belohnung" für sein antifaschistes Engagement gab's was auf die Nase, zumindest erzählten das später seine Schwestern. Er versuchte mit politischen Ämtern gegen das Aufkommen der NSDAP anzukämpfen, 3/25
Read 25 tweets
Apr 9, 2020
Bei allem Verständnis für @c_drosten als Wissenschaftler, in großem Umfang Daten für die Forschung zu bekommen, aber die gestrige Ausgabe des "Corona Update Podcast" von @NDRinfo wirft bei mir große Fragen auf, die diese Folge mMn unbeantwortet lässt. Nämlich die Frage, 1/6
was genau ich unter Pseudonymisierung verstehen soll. Und das, obwohl der Physiker Dirk Brockmann vom @rki_de noch darauf hinweist, dass es wichtig ist, die Bevölkerung darüber aufzuklären. Denn er sagt auch: Es gibt Möglichkeiten, die Daten wieder zusammenzuführen. 2/6
Und genau da liegt der Knackpunkt, finde ich. Wer macht das? Wo liegen diese Daten? Bei einem Regierungsunternehmen? Fänd ich schwierig. Weil das - bei allem ohnehin vorhandenen Risiko - nur gut geht, solange wir in einer Demokratie leben. Bei einem Startup oder Unternehmen? 3/6
Read 6 tweets

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