Ein 🧵mit unterschätzten Fakten zur Wahl und zum politischen System Italiens, die dieser Tage m.W.n. nach zu kurz gekommen sind – die aber wichtig sind, um die Wahl zu verstehen.
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Wahllokale schließen Sonntag, 23 h.
Zum Verständnis der Ergebnisse wichtig:
Italienerinnen und Italiener wählen ZWEI Parlamentskammern, mit ZWEI unterschiedlichen Wahlzetteln: Abgeordnetenhaus und Senat.
Ergebnisse d. Kammern können sich leicht unterscheiden (siehe 2018):
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Vieles von dem, was in den Wochen vor der Wahl passiert ist – und von dem, das sich dann nach der Wahl vielleicht überraschend ändern wird – hat mit dem nationalen Wahlrecht zu tun, das seit 2017 in 🇮🇹 gilt.
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Es wird nach einer Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht gewählt.
Diese Mischung funktioniert m.M.n. deutlich schlechter als das Bundestagswahlrecht – sowohl in Sachen Repräsentativität als auch mit Blick auf die Regierungsfähigkeit.
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Noch komplizierter wird die Lage durch die Kombination dieses unausgegorenen Wahlrechts mit einer 2020 per Volksentscheid verabschiedeten Verfassungsänderung, mit der die Zahl der Parlamentarier drastisch gesenkt wurde – auf nur noch 600 (400 Abgeordnetenhaus, 200 Senat).
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Eine Folge dieses Hybrid-Wahlrechts:
Um Chancen auf mehr Parlamentssitze zu haben, schließen sich Parteien schon VOR der Wahl zu Koalitionen zusammen, die auch auf den Stimmzetteln auftauchen.
Das gibt es m.W.n. außer in 🇮🇹 in keinem anderen größeren europäischen Land.
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Wichtigste Vorwahl-Bündnisse diesmal:
Rechts mit u.a. Fratelli d‘Italia (FDI, Meloni), Lega (Salvini), Forza Italia (FI, Berlusconi)
Mitte-Links m. d. Partito Democratico (PD) u. and. mittigen bis linken Parteien
Außerhalb v. Bündnissen tritt wieder die Siegerin der letzten Wahl von 2018 an, die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S).
Die M5S dürfte diesmal deutlich an Stimmen verlieren – hat aber laut Umfragen zuletzt ein paar Prozentpunkte gut gemacht und könnte nach d. Wahl wichtig sein.
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Ein zentraler Punkt bei diesen Bündnissen: Sie können schon am Tag nach der Wahl wieder zerbrechen.
So geschehen 2018.
Auch damals waren, wie 2022, FI, Lega und FDI eine Wahlkoalition eingegangen.
Kurz nach der Wahl verließ die Lega das Bündnis und regierte mit den M5S.
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Im jetzigen Rechtsbündnis zeigt sich schon vor der Wahl v.a. eine Sollbruchstelle: die Haltung zum russischen Angriffskrieg gg. die Ukraine.
Melonis FDI hat schon lange vor Zerbrechen der Regierung Draghi von der Oppositionsbank aus Waffenlieferungen an Kyjiw unterstützt.
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Lega-Chef Salvini hingegen plädiert regelmäßig für ein Ende der Sanktionen gegen 🇷🇺.
Er fühlte sich Putin lange so nahe, dass er sich 2014 (nach der Krim-Annexion!) auf dem Roten Platz in Moskau im Putin-Shirt ablichten ließ.
Bei einem Auftritt Melonis und Salvinis bei einem Wirtschaftsforum wurden die Unterschiede zur 🇺🇦sehr deutlich:
Salvini forderte d. Ende d. Russland-Sanktionen, Meloni widersprach ihm deutlich und warnte vor einer "Isolierung" Italiens.
Die Parteien in der Mitte und Links davon scheinen zudem offen für eventuelle Bündnisse nach der Wahl: M5S und PD erscheint möglich, PD mit dem Mitte-Bündnis auch, vielleicht ließe sich dazu sogar M5S überzeugen.
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Wichtig: Der Staatspräsident spielt in Italien bei der Regierungspolitik eine größere Rolle als in Deutschland.
Anders als in 🇩🇪wird d. Regierungschef/in nicht im Parlament gewählt, sondern erst v. Präsidenten mit d. Suche einer Mehrheit beauftragt und dann ernannt.
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Erst danach muss sich der Regierungschef einer Vertrauensabstimmung in Abgeordnetenhaus und Senat stellen.
Die Rolle des Präsidenten wird vor allem dann wichtig, wenn es keine klare Mehrheit gibt – was auch nach dieser Wahl durchaus möglich ist.
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Was gerade m. Blick auf eine mögliche Regierung Meloni in 🇩🇪komischerweise völlig unterschätzt wird: Wie kurzlebig Regierungen in 🇮🇹 in d. meisten Fällen sind.
Bisher haben sich seit Gründung der Republik NUR ZWEIMAL (!) Regierungschefs eine ganze Legislatur im Amt gehalten.
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Ebenfalls nicht zu unterschätzen: Die voraussichtl. zum 5. Mal in Folge sinkende Wahlbeteiligung.
2001 lag sie noch bei 81,4 Prozent, 2018 nur noch bei 72,9 Prozent.
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Dieser Rückgang der Wahlbeteiligung hat auch mit einem erheblichen Vertrauensverlust in die Politik in 🇮🇹zu tun, über den ich in meiner jüngsten @kurzgesagtIT-Episode spreche.
Leute, ist ja verständlich, dass ihr das Ergebnis der #Italien-Wahl durch den Filter Eurer Weltanschauung interpretieren wollt.
Aber den Sieg der Rechten mit Neoliberalismus erklären zu wollen in einem Land, in dem die letzte Regierung eine Grundsicherung eingeführt hat... /1
...in dem in Sektoren wie Taxiverkehr, öffentlichem Nahverkehr, Lizenzen für Strandbetreiber seit Jahren (kurioserweise von rechts mehr als von links) jd. Liberalisierung verhindert wird, in dem Bürgerproteste von Nord bis Süd Eisenbahtrassen und Windkraftanlagen verhindern... /2
... in dem die größten Parteien sich mit unfinanzierbaren Rentenerhöhungen oder Möglichkeiten zum früheren Renteneintritt bei den älteren Semestern eingeschmeichelt haben, in dem die Hürden für private Investitionen ein gigantisches Wachstumshemmnis sind... /3
Die Wahl in #Italien ist vorbei.
Ein 🧵 mit Erkenntnissen und Einschätzungen, unterteilt nach politischen Blöcken.
(Tldr: Rechte gewinnen, weil Meloni einen geschickten Wahlkampf gemacht hat, hausgemachtes Desaster für Mitte-Links, Achtungserfolg für M5S)
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Grundsätzlich bemerkenswert: Erstmals seit 2008 hat ein politisches Lager eine nationale Parlamentswahl in 🇮🇹 klar gewonnen.
(Damals ebenfalls ein rechter Wahlsieg, noch unter Führung Silvio Berlusconis, seine Partei hieß damals zwischenzeitlich "Popolo delle libertà".)
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Das Rechtsbündnis holt einen deutlichen Sieg mit komfortablen Mehrheiten sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat. Wofür es nicht reichen wird: eine Zweidrittel-Mehrheit, die Verfassungsänderungen ohne bestätigendes Referendum ermöglicht hätte.
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Ein paar Tipps noch für alle, die heute Abend und/oder morgen Früh die Wahlen in #Italien verfolgen möchten.
Um 23 Uhr dürften die ersten Prognosen rausgehen (auf Exit Polls basierend), in der Stunde danach die ersten Hochrechnungen. /1 #ElezioniPolitiche2022
Allen, die kein Italienisch können, empfehle ich schlichtweg, professionellen deutsch- oder englischsprachigen Nachrichtenseiten zu folgen: Die Kolleg:innen in den Redaktionen der Häuser und der Agenturen, deren Kunden sie sind, arbeiten schnell und professionell. /2
Als Radiosender bei Wahlen empfehle ich @Radio24_news, den Livestream findet ihr hier (Playbutton unten auf der Seite), das Wahl-Special soll um 22.45 Uhr losgehen. /4
Die (hier regelmäßig gelesene) Aussage, dass eine von Giorgia Meloni geführte Regierung die erste ausgesprochen rechte bis rechtsnationale in 🇮🇹 seit 1945 wäre, halte ich für – naja, zumindest sehr originell.
Drei Jahreszahlen: 1994, 2001, 2018. /1👇
1994:
Der gerade in die Politik gegangene Medienmogul Silvio Berlusconi bildet mit d. separatistischen und offensiv ausländerfeindlichen Lega Nord + d. gerade erst als Nachfolgerin der neofaschistischen MSI gegründeten Alleanza Nazionale eine Regierung. /2
Beobachter im Ausland sind entsetzt, fürchten unter Berlusconi ein Abdriften Italiens in den Rechtsextremismus. Die „taz“ stellt damals sogar Vergleiche mit der chilenischen Militärdiktatur an: /3
Kurzes Update aus #Italien: Am Wochenende haben die Stichwahlen um das Bürgermeister-Amt u.a. in 13 Provinzhauptstädten stattgefunden. Dabei haben die Mitte-Links-Parteien ziemlich gut abgeschnitten – nachdem die erste Wahlrunde für sie recht enttäuschend gewesen war. 🧵 /1
Am bemerkenswertesten ist der Sieg des Mitte-Links-Kandidaten Damiano Tommasi in Verona (Venetien)
(für die Fußball-Fans: ja, DER Tommasi, Ex Nationalspieler und AS-Rom-Mittelfeldmann).
Verona ist seit Jahrzehnten eine rechte Hochburg – und eine Hochburg des Neofaschismus. /2
In Parma (Emilia-Romagna) hat der Mitte-Links-Kandidat Pietro Vignali gewonnen. Besonders spannend, weil hier bisher Federico Pizzarotti regierte. Pizzarotti war 2012 der erste Kandidat, der für die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) eine wichtige Kommunalwahl gewann. /3
Ich muss etwas Längeres loswerden über eine Ignoranz, die mich in diesen schrecklichen Tagen in Rage bringt wie nie zuvor: die vieler Menschen in Deutschland gegenüber den Nachbarstaaten in Mittel- und Osteuropa, von 🇨🇿 bis 🇪🇪, von 🇵🇱 bis 🇷🇴, von 🇲🇰 bis🇺🇦. 1/ 🧵 #UkraineKrieg
Diese Ignoranz herrscht nicht nur in Deutschland vor, sondern auch in anderen seit 1945 ff. als „westlich“ verstandenen Ländern: von Italien, meine zweite Heimat, würde ich sagen, dass sie dort noch verbreiteter ist. Das macht die deutsche Ignoranz aber nicht besser. 2/
Mir schlägt diese Ignoranz auch aus persönlichen Gründen stark auf den Magen. Wer mich kennt, weiß, dass ich als Enkel sudetendeutscher Familien Wurzeln im heute tschechischen Mährisch-Schlesien habe. 3/