Heute sind die Wahlen in #Italien. Das Rechtsbündnis aus FdI (EKR), Lega (ID) und FI (EVP) hat gute Chancen auf den Sieg, womöglich sogar eine verfassungsändernde 2/3-Mehrheit.

Was bedeutet das für die EU? Ein Hot-Take-Thread.
Liest man Kommentare europäischer Beobachter:innen, findet man ein sehr breites Spektrum von Einschätzungen, die grob gesagt von "Rückkehr des Faschismus" bis zu "Italien braucht das Geld des EU-Wiederaufbaufonds, also wird sich schon nicht viel ändern" reichen.
Klar ist: Die Parteien des Rechtsbündnisses haben eine gemeinsame Agenda, die weit rechtsaußen angesiedelt ist.
Aber die drei Parteien sind sich nicht in allen Fragen einig, konkurrieren politisch miteinander und könnten sich z.B. über Verfassungsänderungen leicht zerstreiten.
Das 🇮🇹 politische System hat starke Checks & Balances, insbesondere den Staatspräsidenten und die unabhängige Justiz. Auch der Verwaltungsapparat ist tendenziell proeuropäisch-demokratisch.
Italien hat schon die Berlusconi-Regierungen (ebenfalls mit FI, Lega und FdI) überstanden.
Und tatsächlich profitierte Italien, das in der europäischen Polykrise (Euro, Asyl, Corona) immer wieder besonders stark getroffen wurde, unter Draghi stark vom EU-Wiederaufbaufonds und dem Vertrauen der Märkte.
Wirtschaftlich wären abrupte Politikwechsel sicher keine gute Idee.
Aber: Seit zehn Jahren wird Italien von Technokratenkabinetten, "nationalen Einheitsregierungen" und anderen nur widerwillig geformten Koalitionen regiert.
Meloni wäre seit Berlusconi die erste Regierungschefin, die zuvor bei einer Wahl Spitzenkandidatin angetreten ist.
Sie hätte damit ein klareres politisches Mandat als ihre sechs Vorgänger seit 2011 (Monti, Letta, Renzi, Gentiloni, Conte, Draghi).
Zugleich sind damit natürlich auch Erwartungen ihrer Wählerschaft verbunden: Das Rechtsbündnis wird (wenigstens symbolisch) "liefern" müssen.
Das haben die drei Parteien auch erkannt, die sich in den letzten Monaten (trotz ihrer im Einzelnen nicht deckungsgleichen Agenda) immer wieder auf gemeinsame Positionen einigen konnten.
Wie lange diese Einheit halten wird, ist eine Schlüsselfrage und schwer vorauszusagen. Das liegt auch an innerparteilichen Dynamiken: Wird Salvini wegen der Verluste der Lega unter Druck geraten? Wie lange hält sich Berlusconi gesundheitlich noch auf den Beinen?
Außerdem kommt es natürlich auf den genauen Wahlausgang an: Werden FdI und Lega auch ohne FI eine Mehrheit haben, oder ist wenigstens grundsätzlich eine Draghi-artige Regenbogen-Koalition aus PD, M5S, Az/IV, FI und Kleinparteien denkbar?
Und was bedeutet das nun für die EU? Hier einige Erwartungen:
1. Einige Gruselszenarien spielen mit der Idee eines italienischen Euro-Austritts (#Italexit).
Tatsächlich haben Meloni, Salvini und Berlusconi alle in der Vergangenheit öffentlich mit dieser Idee sympathisiert.
Die Wahrscheinlichkeit ist aber nahe null.
Denn alle drei wissen, dass das ökonomisch fatal wäre, und zu ihrer Wählerbasis gehören auch mittelständische Unternehmer.
In der Lega sprach man deshalb von einem Gegensatz zwischen "Lega di lotta" (der populistischen (Wahl)Kampf-Lega) und "Lega di governo", der Regierungs-Lega.
2. Schon begründeter ist die Sorge, wie sich 🇮🇹 hinsichtlich der EU-Sanktionen gegen #Russland verhalten wird.
Der 🇮🇹 Wirtschaft schaden die Sanktionen, und Berlusconi und Salvini sind alte Putin-Freunde (was Berlusconi auch im Wahlkampf offen zeigte).
Andererseits legt Meloni großen Wert darauf, sich im russisch-ukrainischen Krieg als Teil des Westens zu präsentieren, und der wichtigste europäische Partner der FdI (im Rahmen der @ECRparty) ist die polnische PiS.
Meine Erwartung wäre, dass eine italienisch Rechtsregierung hier keine allzu offenen Politikwechsel vollziehen wird - aber bei der Frage neuer Sanktionen gegebenenfalls etwas mehr die Füße schleifen lassen wird als die Draghi-Regierung es tat.
3. Zum Problem dürfte die italienische Rechtsregierung auch in der europäischen Rechtsstaats- und Rechtsgemeinschaftskrise werden.
Zum einen suchten schon die Berlusconi-Regierungen immer wieder den offenen Konflikt mit dem angeblich linken Justizsystem ("toghe rosse").
Sollte das Rechtsbündnis eine verfassungsändernde Mehrheit haben und die Justiz als Hindernis für ein "Durchregieren" wahrnehmen, besteht die Gefahr, dass es hier dem Vorbild von Orbán und Kaczyński folgt.
Zum anderen gehört die Forderung nach einem Vorrang des nationalen gegenüber dem europäischen Recht zu den Standardforderungen der italienischen Rechten - und könnte ebenfalls Thema bei einer Verfassungsänderung werden.
Im Extremfall könnte Italien in Sachen Rechtsstaatlichkeit also ein zweites Polen werden.
Das ist kurzfristig nicht sehr wahrscheinlich, gewinnt aber an Plausibilität. Und Angriffe auf den Rechtsstaat kommen ohnehin meistens schleichend.
Und jedenfalls dürften die ungarische und polnische Regierung bei Rechtsstaatskonflikten Italien künftig eher als Verbündeten denn als Gegner haben.
Dass der Rat sich entschlossen für die Wiederherstellung des Rechtsstaats einsetzt, wird damit noch etwas unwahrscheinlicher.
4. Ähnliches gilt für institutionelle Reformen: 🇮🇹ist traditionell einer der integrationsfreundlichsten Mitgliedstaaten, der sich für ein starkes EP, transnationale Listen, einen starken EU-Haushalt etc. eingesetzt hat.
Mit einer Rechtsregierung verlieren die Proeuropäer diesen Verbündeten im Rat.
5. Bleibt noch als letzte Frage: Wird ein Sieg der italienischen Rechten einen europaweiten Dominoeffekt und einen großen Rechtsruck bei der nächsten Europawahl auslösen?
Mir erscheint das sehr unwahrscheinlich.
Klar: Mit einem Sieg würde Meloni selbst zu einer wichtigen neuen Referenzfigur der europäischen Rechten werden und zum Beispiel Marine Le Pen, teilweise wohl auch Orbán und Kaczyński in den Schatten stellen.
Aber: Europaweit vollzieht sich der Aufstieg der extremen Rechten nur sehr, sehr allmählich, wie die #Europawahlprojektion zeigt: foederalist.eu/p/europawahl-u…
Plötzliche europäische Dominoeffekte gibt es da kaum, und von einer Mehrheit im EU-Parlament sind EKR und ID weit entfernt.
Insgesamt wird die mögliche Rechtsregierung unter #Meloni für die EU also eher keinen kurzfristigen Schock bringen.
Langfristig aber kann sie sehr negative Auswirkungen haben - vor allem weil mit ihr #Italien als wichtiger proeuropäischer Akteur im Rat künftig ausfallen dürfte.
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