Mein 🧵zu der gefürchteten Spannungsrisskorrosion in französischen und deutschen Atomkraftwerken sorgte für Diskussionen. Darum nun ein weiterer 🧵 mit Ergänzungen und Antworten. #KeinenTagLänger
1️⃣ Bei der Revisionsprüfung im AKW Neckarwestheim 2 im Juni 2022 wurden zum sechsten Mal hintereinander Korrosionsschäden an Dampferzeugern entdeckt. Es wurden inzwischen mehr als 350 Risse an Rohren nachgewiesen, die teilweise tiefgehend und lang sind.
2️⃣ Die Ursache der Spannungsrisskorrosion ist nach wie vor nicht beseitigt. Es können deshalb jederzeit weitere Risse in den Dampferzeugungsheizrohren entstehen und sich ausdehnen.
3️⃣ Das kann dazu führen, dass die Rohre spontan bersten oder abreißen. Das haben mehrere Gutachter bestätigt. Schon der Bruch eines einzigen der 16.000 dünnwandigen Rohre könnte einen gefährlichen Kühlmittelverluststörfall auslösen, der zu einem Super-GAU führen könnte.
4️⃣ENBW behauptete, dass ein sogenannter „Leck vor Bruch“-Nachweis vorliege. Das bedeutet, dass bei einem Störfall zunächst ein stabiles Leck im Rohr entsteht, bevor ein Bruch („katastrophales Versagen“) eintritt. Das ermöglicht die Anlage abzufahren, bevor das Rohr bricht.
Bereits 2021 kam Dieter Majer in einem Gutachten für @ausgestrahlt zu dem Ergebnis, dass dieser „Leck vor Bruch“-Nachweis keineswegs erbracht sei. Der frühere Chef der Atomaufsicht im BMU kennt das Innenleben der deutschen AKW auswendig, so die @DIEZEIT. ausgestrahlt.de/media/filer_pu…
Inzwischen haben staatliche Gutachten bestätigt, was Majer feststellte: spontane, unvorhersehbare Rohrbrüche können in Neckarwestheim nicht ausgeschlossen werden.
5️⃣ ENBW musste zugeben, dass die 2018 entdeckten tiefen Risse nach einer selbst erfundenen Methode in unkritische flache Risse umgerechnet wurden. Das Umweltministerium kritisierte das als „nicht sachgerecht“. Aber die darauf beruhenden Sicherheitsnachweise seien gültig. 🤯
6️⃣ Da die rostigen Rohre durchbrechen können, ohne das es vorher jemand bemerkt, dürfe das AKW Neckarwestheim nicht weiterlaufen, schreibt Dieter Majer in seinem Gutachten. ausgestrahlt.de/media/filer_pu…
„Jedenfalls darf das AKW Neckarwestheim so nicht Weiterbetrieben werden. Ein Weiterbetrieb kann nur erfolgen, wenn erreicht werden kann, das interkristalline Spannungsrisskorrosion nicht mehr stattfinden kann, z.B. in dem ein saueres oder alkalisches Millieu mit Sicherheit…
ausgeschlossen werden kann“, schrieb der Ministerialdirigent a.D. Und das kann leider nicht sicher ausgeschlossen werden.
7️⃣ Im baugleichen AKW Isar 2 weigert sich PreußenElektra (EON verwendet für seine Atomsparte den alten Namen), systematisch nach Rissen zu suchen. Dass die bayrische Atomaufsicht dies zulässt, zeugt von einem dramatischen Verfall der Sicherheitskultur in Bayern!
8️⃣ Dass es gar nicht so einfach ist, die Ursachen von Spannungsrisskorrosion dauerhaft zu beseitigen, zeigt sich gerade im französischen Atomkraftwerk Cattenom. Es ist zu befürchten, dass die Korrosionsprobleme dort in ein paar Jahren wieder auftauchen. lessentiel.lu/de/story/edf-b…
9️⃣ Die Spannungsrisskorrosion ist nur ein Beispiel dafür, wie die einzelnen Komponenten von Atomkraftwerken physikalisch altern. Extreme thermische, mechanische und chemische Belastungen sowie das Neutronen-Dauerbombardement aus der Kernspaltung führen zu Materialermüdung.
Experten sprechen von einer Badewannenkurve für die Ausfallrate von Teilen eines AKW. Am Anfang ist die Ausfallrate hoch, weil in dieser Phase Baumängel und Konstruktionsfehler ans Licht kommen. Sind diese behoben, sinkt die Ausfallrate auf ein Minimum, bis nach
etwa 20 Jahren wieder ansteigt. Selbst wenn wir die rostigen Dampferzeuger austauschen, werden die Altersmängel weiter zunehmen. Die Materialalterung vollzieht sich auf der mikroskopischen Ebene der inneren Struktur von Materialien.
Ein Teil der Altersausfälle ist vorhersehbar, aber es kommt auch immer wieder zu unvorhergesehenen vorzeitigen Alterungserscheinungen. Je älter, desto riskanter. Darum dürfen wir der FDP auf keinen Fall nachgeben, wenn sie die 34 Jahre alten AKW noch jahrelang betreiben will.
🔟 Angesichts der Spannungsrisskorrision in Neckarwestheim, Emsland und vermutlich auch Isar 2 halte ich einen Weiterbetrieb der Oldtimer-AKW für zu riskant. So sieht es auch der Kernphysiker Heinz Smital von @greenpeace_de
P.S. Die Atomfans haben sich darauf eingeschossen, dass die Unterschiede zwischen der zehnjährigen Untersuchung in Frankreich und der PSÜ hier größer seien, als von mir dargestellt. Für meine obige ☝️Argumentation ist das aber völlig nebensächlich.
Am 14.12. geht es vor dem VGH Mannheim darum, wie lange ein AKW an der Gefahrengrenze betrieben werden darf, wenn geforderte Sicherheitsnachweise nicht vorliegen. ausgestrahlt.de/blog/2022/10/1…
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
In Fragen der Reaktorsicherheit vertraue ich lieber einem erfahrenem Ingenieur wie Ministerialdirigent a.D. Dieter Majer und nicht einer Historikerin. Schon gar nicht, wenn sie Falschinformationen verbreitet und ständig Wissenschaftler*innen beleidigt.
Lässt sich Lindner eigentlich in der Energiepolitik von keinen Experten beraten? Ich meine, außer von schlechten PR-Strategen? Neue Brennelemente zu beschaffen dauert normalerweise 15 bis 18 Monate. Und wo will die FDP die kaufen?
Der Lobbyverein KernD sagt, es ginge vielleicht schon in 12 Monaten. Der Chef von KernD ist Geschäftsführer einer Tochterfirma des russischen Atomkonzerns Rosatom.
Die einzige deutsche Brennelemtefabrik in Lingen wird übrigens weiter mit Uran aus Russland beliefert. Wollte ich nur mal darauf hinweisen. ndr.de/nachrichten/ni…
Niemand beschäftigt sich gerne mit Rissen in Atomkraftwerken. Ich auch nicht. Aber die grünen BDK-Delegierten sollten es bitte tun, bevor sie über den Streckbetrieb abstimmen. „Spannungsrisskorrosion“ - deshalb sind Frankreich gerade so viele AKW abgeschaltet. 🧵
(1) Das Gefährliche an der Spannungsrisskorrosion in einem AKW ist, dass Umfang, Richtung und Geschwindigkeit des Risswachstums nicht sicher vorhersehbar sind. Und es deshalb zu einem plötzlichen, nicht vorhersehbaren Abriß sicherheitsrelevanter Rohre kommen kann.
(2) Ein Dutzend AKW wurden in Frankreich behördlich abgeschaltet, weil im Rahmen von Zehn-Jahres-Kontrollen solche gefährliche Risse entdeckt wurden. In Deutschland fand diese zehnjährliche PSÜ 2019 nicht statt, weil am 31.12.22 ja ohnehin Schluss mit den AKW sein sollte.
Ich wurde von Atomkraftfans kritisiert, weil ich die drei noch im Betrieb befindlichen deutschen AKW als marode Schrottreaktoren bezeichnet habe. Habe ich übertrieben? 🧵(1/6)
Die Reaktoren Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 wurden in den 1970er-Jahren entwickelt, als gerade die erste Golf-Generation vom Band lief. Ihr Anlagenkonzept ist veraltet, heute wären alle drei nicht mehr genehmigungsfähig. (2/6)
Die einzelnen Komponenten eines Atomkraftwerkes altern physikalisch. Die extremen Belastungen denen die einzelnen Teile einer Atomanlage im Betrieb ausgesetzt sind, führen im Lauf der Zeit zu einer Verschlechterung der Materialeigenschaften.(3/6)