Nach langer #Anonyma Pause ("Eine Frau in Berlin") mache ich das Tagebuch und den Nachlass der Autorin zur Quelle einer Übung an der Uni. Heidelberg (WiSe22/23). Wer nicht weiß oder vergessen hat, wer Anonyma war, hier ein kurzer 🧵
Es handelt sich um eine Berliner Journalistin, die vom 20.4. bis 22.6.45 ein Tagebuch geführt und darin ungewöhnlich scharfsinnig ihre täglichen Erfahrungen im zerbombten Berlin und die Eroberungen der Stadt durch die Rote Armee, incl. Vergewaltigungen, geschildert hat.
Nach dem Krieg wurde das TB anonym 1945 in den USA verlegt und in weitere 12 Sprachen übersetzt, auf Dt. erschien es erst 1959, fand jedoch wenig Resonanz. Erst die Neuauflage von 2003 wurde zum Bestseller, aber auch zu einem umstrittenen Buch,
nicht zuletzt weil Jens Bisky in der SZ die Identität der Autorin Publik machte, sie als Rad im NS-Getriebe entlarvte und die Authentizität des TBs anzweifelte. Das TB löste auch Debatten über Täter- und Opferrollen aus, wurde vom Färbeböck 2008 verfilmt (constantin-film.de/kino/anonyma-e…)
und weitere Spr. übersetzt. Der Film (mit russischen Schauspielern!) wurde aber zum Flop (ein Artikel von mir dazu: degruyter.com/document/doi/1…), in RU scharf kritisiert und das TB als Propaganda abgelehnt. Die Originale des TBs lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor,
erst 2016 kamen mir das Manuskript und der Nachlass der A. in die Hände. Obwohl ich nach der Auswertung der Quellen zum Ergebnis kam, dass das TB ein literarisiertes Zeugnis ist, bleiben die darin geschilderten Ereignisse, u.a. sexuelle Gewalt, authentisch,
teilweise eins zu eins (VfZ, 2019 degruyter.com/document/doi/1…). Inzwischen liegt das TB in 30 Sprachen vor, eine Ausnahme ist... RU. Zwar erschien eine Übersetzung 2019, nachdem eine inoffiz. im Netz kursierte, im Nov. 2021 wurde das TB aber nach Entscheidung eines Gerichts für
"extremistisch" erklärt (colta.ru/news/28925-v-r…). Wundert es jemanden??? Nun bin sehr darauf gespannt zu erfahren, wie Studierende das vielschichtige Buch lesen, seine Vor- und Nachgeschichte, Perzeption und bittere Aktualität interpretieren werden.
Die Autorin selbst hat die ganze Aufregung um ihr Buch nicht mitbekommen. Sie verstarb im Alter von 90 Jahren im Jahr 2001 in Basel. Wer sie war? 👉ifz-muenchen.de/anonyma
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