Da hier mal wieder Anti-Nutri-Score-Populismus trendet, eine kurze Einordnung der Fakten als Thread 🧵
Ich arbeite seit >10 Jahren zum Thema Nährwert-Kennzeichnung und ernährungsbedingte Krankheiten – früher @foodwatch_de und heute @DAG_Presse sowie @DDG_Tweets
Los geht's👇
1. Für die allermeisten Produkte trifft die Klassifizierung mit dem #NutriScore sehr gut zu und hilft nachweislich, die gesündere Wahl zu treffen. Das haben große Untersuchungen und auch das @MRI_Aktuelles bestätigt.
2. Verarbeitete Produkte können ein ausgewogenes Nährwertprofil haben – zB wenn sie wenig
Zucker, Fett, Salz aber viele Ballaststoffe, Vollkorn und/oder einen hohen Gemüseanteil haben. Ein
Foto von der Vorderseite eines Produkts sagt idR NICHTS aus - Comicfiguren hin oder her.
3. Der Nutri-Score bietet einen Anreiz für die "Reformulierung“ verarbeiteter Produkte mit im Ergebnis höherer Nährwertqualität. Das ist sinnvoll und gewünscht, um den (viel zu hohen) Verzehr von zB Zucker oder Salz der Gesamtbevölkerung sukzessive zu verringern.
4. Auch wenn Nestlé sich sein Image wohl verdient hat, muss man ihnen eines lassen: Nestlé hat die Rezepturen der Frühstücksflocken in den letzten Jahren verbessert und Zucker reduziert. Testet das mal – gerade im Vergleich zum Wettbewerber Kelloggs – ist der Unterschied enorm.
5. Nach wie vor sind die meisten Nestlé-Flocken zu süß, um die Empfehlungen der WHO Europe für ausgewogene Kinderprodukte einzuhalten (max 15% Zucker). Die Anpassungen reichen aber, um beim Nutri-Score A/B/C zu bekommen. v.a. durch weniger Zucker u. mehr Ballaststoffe + Vollkorn.
6. Nestlé wird seine Bemühungen intensivieren müssen, um die relativ guten Nutri-Score Bewertungen aufrecht zu erhalten. Kürzlich wurden Verschärfungen am Algorithmus beschlossen. Unter anderem wird künftig der Zuckergehalt strenger bewertet. Mehr dazu:
7. Kein Nährwert-Kennzeichen ist perfekt und trifft für alle >100.000 Produkte im Supermarkt eine exakte Einordnung. Der Nutri-Score ist aber nachweislich das beste vorhandene System. Er ist unabhängig entwickelt, nutzt immer Bezugsgröße 100g/ml und ist intuitiv/farblich kodiert.
8. Die Alternativen schneiden regelmäßig in wissenschaftlichen Vergleichsstudien schlechter ab. Insbesondere ist die aktuelle Pflichtkennzeichnung – die Nährwerttabelle im Kleingedruckten – vollkommen ungeeignet, um Verbrauchenden eine informierte Kaufentscheidung zu ermöglichen.
9. Die größte Schwäche des Nutri-Score ist nicht der Algorithmus bzw. die wenigen Ausreißer-Produkte, die gerne ins Feld geführt werden. Die größte Schwäche ist seine Freiwilligkeit. Hersteller mit unausgewogenen Rezepturen weigern sich einfach, den Nutri-Score zu verwenden.
10. Das führt dazu, dass wir im Supermarkt – auch zwei Jahre nach Einführung – vor allem auf tendenziell ausgewogenen Produkten die Kennzeichnung finden. Ausgerechnet die Produkte, bei denen die Kennzeichnung am wichtigsten wäre, sind unterrepräsentiert.
11. Problem: Mitgliedsstaaten können auf nationaler Ebene keine verbindlichen Vorgaben für ein Nährwert-Kennzeichen machen. Das hat die Lebensmittel-Lobby 2010/2011 im Kampf um die Lebensmittelinformationsverordnung damals erreicht und behindert bis heute sinnvolle Regulierung.
12. Deshalb kann eine deutsche Bundesregierung – wie auch die anderen Nutri-Score-Länder Frankreich, Belgien & Co. – das System nur empfehlen und nicht vorschreiben. Auch wenn es oft falsch dargestellt wird: Julia Klöckner hätte das Label nicht vorschreiben können.
13. Die aktuelle Bundesregierung setzt sich meiner Kenntnis nach aber auf EU-Ebene dafür ein, dass der Nutri-Score verbindlich und EU-weit verwendet wird. Dieser Kampf ist allerdings noch lange nicht gewonnen, da u.a. Italien mit irreführenden Argumenten gegen das System wettert.
Fazit: Anstatt sich ohne Sachkenntnis über einzelne Produktbeispiele aufzuregen, bei denen die Einstufung (noch) nicht hinhaut, sollte sich die Aufmerksamkeit auf die Diskussion zur EU-weiten Kennzeichnung d Zukunft richten. Hier spielt die Musik. In diesem Sinne: Guten Rutsch 🚦
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Werbeverbote seien nicht geeignet, um einen Beitrag „zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems“ des Übergewichts bei Kindern und Jugendlichen (...) zu leisten.
Das sehen praktisch alle Fachleute anders! Laut der WHO sind
Werbeverbote sogar eine prioritäre (!) Maßnahme im Kampf gegen die Adipositas-Epidemie.
Als die @WHO_Europe ihren Adipositas-Bericht 2022 vorgestellt hat, hat sie Werbebeschränkungen als eine der vier "besonders vielversprechenden" Maßnahmen extra hervorgehoben.
Und wenn die Süßwarenindustrie behauptet, Werbung wäre nicht so wichtig für das Ernährungsverhalten von Kindern, führt sie die Öffentlichkeit in die Irre.
Eine große systematische Übersichtsarbeit hat kürzlich den Einfluss auf die Präferenzen und das Essverhalten untermauert.
Die von @foodwatch_de und @fragdenstaat ins Leben gerufene Plattform "Topf Secret" macht es seit 2019 möglich, an die tausenden geheimen Dokumente zu kommen. Mit wenigen Klicks lassen sich die amtlichen Ergebnisse beantragen und auch veröffentlichen: topf-secret.foodwatch.de