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Jan 12 39 tweets 7 min read
Im Zusammenhang mit #Luetzerath taucht wieder häufig die Behauptung auf, fossile Energienutzung sei eine typische Konsequenz des Kapitalismus und dieser müsse daher allein schon aus ökologischen Gründen überwunden werden.

Ist da was dran? 🧵

Präziser gefragt: Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsform und CO2-Emissionen identifizieren?

Kritiker des antikapitalistischen Gestus bei der Klimabewegung weisen zum einen darauf hin, dass Energiebereitstellung ein physikalisches Problem sei...
...und deshalb nichts mit der Frage, wem die Produktionsmittel gehören, zu tun habe; zum anderen: dass in den Ostblockstaaten kaum Umweltschutz betrieben worden und der Kapitalismus somit das klimafreundlichere System sei. (Ich selbst habe schon in beide Richtungen argumentiert!) Image
Also: was denn nun?!

😁
Zunächst: Wer über ein Portfolio von (Energie-)Produktionsmitteln verfügt, kann entscheiden, welche eingesetzt werden -- insofern gibt es hier durchaus einen offensichtlichen Zusammenhang. Der Knackpunkt jedoch: **nach welchen Kriterien** entscheiden Privatunternehmen...
...bzw. Regierungen, welche Technologien sie einsetzen?

Das profitorientierte Unternehmen möchte vor allem den Bruch Einnahmen/Ausgaben maximieren. Es wird also jene Technik wählen, die es erlaubt, die größte Menge an kWh einzuspeisen bei geringstem finanziellen Aufwand.
Dazu ist in Deutschland Braunkohle eine sinnvolle Wahl: sie braucht nicht importiert zu werden, ist in großer Menge preiswert verfügbar. Deshalb wird Braun- im Gegensatz zur Steinkohle auch nicht subventioniert. Auch der Bau der Anlagen ist vergleichsweise billig.
Auch eine Regierung muss natürlich wirtschaftlich denken: Wie verteile ich die Gesamtsteuereinnahmen x auf verschiedene Aufgabenbereiche?

Sie ist jedoch zugleich berechtigt (oder berechtigt sich selbst dazu), die Steuereinnahmen zu erzwingen.
Libertäre sehen dies als üble Tyrannei, Konservative als leidige Notwendigkeit, Linke (ausgenommen Anarchisten) tendenziell als Möglichkeit, Entscheidungen unabhängig von Marktprozessen zu fällen und dadurch den Machtunterschied zwischen Reichen und Armen auszugleichen.
Es lassen sich zahlreiche Beispiele aus dem Energie- und Infrastruktursektor finden, die darauf hindeuten, dass die Linken in manchen Fällen einen soliden Punkt haben. Beispielsweise ist im Eisenbahnsektor überhaupt keine wirkliche Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern...
...möglich: weil sie ein- und dasselbe Gleismaterial benutzen und sich notwendigerweise aufeinander abstimmen müssen. In Großbritannien wuchs sich die Verteilung des Netzes von British Rail auf mehrere private Anbieter zur Katastrophe aus.
Alle Großstaudämme und ein substanzieller Anteil der Kernkraftwerke weltweit sind Staatseigentum. Dies macht bei diesen Anlagen Sinn, da sie auf sehr lange Betriebsdauer ausgelegt sind (in den USA diskutiert man die Verlängerung von Kernkraftwerkslaufzeiten auf 100 Jahre)... Image
...und über diesen Zeitraum ein- und dasselbe Produkt (Strom) zu möglichst stabilen Preisen zur Verfügung stellen sollen.
Auch die deutsche Energiewende mit ihren Hauptschwerpunkten Solar- und Windenergie funktioniert nur durch staatliche Lenkung: zwar gehören die Anlagen privaten Unternehmen, doch sie müssen durch das EEG (das wie eine steuerfinanzierte Subvention wirkt) ständig gestützt werden.
Hier zeigt sich, dass eben auch eine Regierung wirtschaften muss, und dass die Rahmenbedingungen für dieses Wirtschaften durch die Physik definiert sind.

Wind- und Solarparks arbeiten erratisch mit niedrigen Nutzungsgraden (20 bzw. 11%) und verschlingen sehr große Mengen...
...an Baumaterialien pro erzeugter kWh -- selbst im Vergleich mit den mächtigen Staudämmen und Reaktorkuppeln!
Man mache sich klar, dass man über 1000(!) Windparks ähnlich dem unten gezeigten nebeneinander bauen müsste, um die Produktion eines Kernkraftwerks zu erzielen. Image
Materialien müssen eingekauft und verarbeitet, Löhne und Gehälter von Bauarbeitern und Technikern ausgezahlt werden. Selbst, wenn die Bevölkerung also ohne zu murren Steuern, Abgaben und Umlagen bezahlt, läuft dies notwendigerweise darauf hinaus...
...dass immer mehr Ressourcen innerhalb des Gesamtsystems in einen bestimmten Sektor (Elektrizität) gelenkt werden und dann anderswo fehlen. Elektrizität ist (neben Öl) das Fundament der Produktion, nicht ihr Ziel. Wenn man bei einem Haus ständig oben Steine wegnimmt...
...und ins Kellergeschoss einbaut, hat man irgendwann kein Haus mehr.
Die Physik gibt mit anderen Worten vor, welche wirtschaftlichen Auswirkungen die Wahl einer bestimmten Kombination von Energiequellen hat. Sowohl Privatunternehmen wie Regierungen unterliegen diesen Randbedingungen.
Sie haben jedoch etwas unterschiedliche Möglichkeiten, Technologieentscheidungen zu fällen, da die Auswirkungen sie auf verschiedene Weise treffen.
Beispielsweise kann eine Regierung sich entscheiden, einmal eine beträchtliche Menge an Steuergeldern in Hand zu nehmen und einen Staudamm oder ein Cluster von Kernkraftwerken zu errichten, um von da an den Bürgern sehr billig Strom zur Verfügung zu stellen...
...da dies die Wirtschaft belebt, Investoren anzieht und dadurch im Endeffekt auch wieder mehr Steuereinnahmen ermöglicht, die dann für andere Projekte zur Verfügung stehen.
Ein Privatunternehmen wäre womöglich gar nicht in der Lage, die benötigte Kapitalmenge aufzutreiben, oder wenn doch, dann würde der Vorstand zögern, in Anlagen zu investieren, die erst mittel- bis langfristig schwarze Zahlen schreiben werden.
Eine Regierung hat somit einen größeren Spielraum, vor allem im zeitlichen Sinne -- Staatsprojekte bieten sich, wie schon gesagt, an, wenn es um sehr langfristige Investitionen geht. Libertäre würden hinzufügen, dass dieser Spielraum mit Gewalt erzwungen werde.
Sozialisten argumentieren letztlich in dem Sinne, dass der Staat sich bei seinen Entscheidungen von philosophischen Überlegungen leiten lassen könne, Unternehmen dagegen folgten ausschließlich dem Ziel der Profitmaximierung.
Das mag zutreffen -- allerdings stellt sich dann die Frage: wie entscheidet man, welche philosophischen Ziele denn wünschenswert seien? Platon hätte gesagt: daran, dass sie auf die Veredlung der Menschen zu Idealwesen hinarbeiten;
die Scholastik entsprechend: daran, dass sie den Willen Gottes erfüllen; der Marxismus entsprechend: daran, dass sie eine klassenlose Gesellschaft herbeiführen; die Klimabewegung: daran, dass sie eine möglichst schnelle Dekarbonisierung zur Folge haben.
Das Problem ist halt: immer, wenn Menschen auf eine goldene, makellose Idee, die nicht hinterfragt werden darf, zustreben, streben sie erfahrungsgemäß auch dann weiter darauf zu, wenn Physik und/oder Verhaltensbiologie ihnen eine tiefe Schlucht in den Weg legen.
(Neuropsychologisch ließe sich diese "reine Idee" womöglich mit dem Orgasmus oder den Wirkungen von Kokain identifizieren?!)
Stimmt es also: "zum Klimaschutz müssen wir den Kapitalismus überwinden"?

Im unmittelbaren Sinne nein. Was für die CO2-Bilanz allerdings günstig sein könnte: Staatsbetriebe, die langfristig kohlenstoffarme Elektrizität preiswert zur Verfügung stellen --
-- und wie dies anzustellen ist, gibt die Physik vor. Image
Und ja, mir ist klar, dass solche Erwägungen rein gar nichts mit der inneren Bilderwelt der meisten #Lützenrath-Aktivisten zu tun haben. Die denken nicht darüber nach, wie und mit welcher Technik man preiswerten Strom liefert --
-- sondern schwärmen in einer abenteuerlichen Phantasie vom Guerillakampf gegen eine dunkle Macht, nach deren Überwindung eine idyllische Solarpunkwelt lockt. ImageImageImage
PS.
Ich vermute übrigens, dass dieses in der Populärkultur und politischen Phantasien sehr verbreitete Bild einer im Wald ansässigen, unschuldig-idyllischen Kultur, die sich gegen technisch hochentwickelte Eindringlinge zur Wehr setzen muss, auf prähistorische Zeit zurückgeht.
--> Auf den Beginn des Neolithikums, als sesshaft gewordene Bauerngesellschaften die verbleibenden Jäger und Sammler angriffen und verdrängten oder versklavten.
Ein Novum der Solarpunk-Ästhetik ist übrigens, dass auch die moralisch reinen "Naturburschen" als technisch hochentwickelt dargestellt werden -- auf Basis solcher Technologien, die als "sauber", "gesund", "ungefährlich" wahrgenommen werden.
Im 21. Jahrhundert wird Technik wieder -- ähnlich wie im 19. und im Gegensatz zum 20. Jahrhundert -- als potentiell befreiend, als Werkzeug zur Verbesserung angesehen. Dies ist eine gute Entwicklung.

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Jan 11
Wobei es natürlich interessant ist, sich zu überlegen, warum Maschinen sich gerade mit solchen alltäglich scheinenden Aktivitäten schwertun.

"Geh doch mal zum Penny Bier holen: nach links über die Kreuzung, dann ist es auf der rechten Straßenseite nach dreihundert Metern."
Dazu müsste der Roboter wissen, was sich alles implizit an diese Bitte knüpft: Dass er die Wohnung verlassen und mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fahren muss -- wie sich Fahrstuhltüren von Wohnungstüren unterscheiden -- dass man den Fahrstuhl mit einem Druck auf den Knopf...
...neben der Tür holt; wie man sich verhält, wenn schon andere Menschen in der Kabine sind; wie man eine Fußgängerampel benutzt; wie man in einem Supermarkt das Getränkeregal und die Kasse findet und wie man bezahlt und tausend weitere Alltagsdinge.
Read 6 tweets
Jan 11
#ChatGPT
Übrigens ein interessanter Bildungstest: Je gebildeter und klüger Menschen sind, desto weniger leicht sind sie durch das Können von Maschinen zu beeindrucken. Image
In meiner Abiturklasse (1999) gab's ein Mädel, das sich schrecklich vor Computern fürchtete, weil irgendein Programm den Gary Kasparov im Schach geschlagen hatte. Sie befürchtete den baldigen Aufstieg Skynets.
Völlig ungebildet war die übrigens nicht -- sie las gerne alte Literatur, Klassiker und Romantiker, aber eben auch nur das: von moderner Literatur und Philosophie -- keine Ahnung, ebenso von Naturwissenschaften, Technik. Außerdem war sie Fan der Terminator-Filme.
Read 4 tweets
Jan 10
Das gute an KI-Kunst und -Texten ist, dass diese menschliche Kreative zwingen, etwas wirklich neuartiges zu ersinnen, anstatt, wie sowohl in der Unterhaltungsindustrie wie auch im Fandom üblich, endlose Wiederholungen bekannter Konzepte mit leichten Abwandlungen hervorzubringen.
"Jugendlicher ist irgendwie besonders begabt, wird deshalb in Schule und Nachbarschaft gemobbt; eine geheime Organisation rekrutiert ihn oder sie, daraufhin beginnt ein tolles, aufregendes Leben voll neuer Freunde und Abenteuer."
Dieses Harry-Potter-Schema wird von sog. "Young Adult"-Literatur in endlosen Wiederholungen und Mutationen durchgenudelt -- es spricht den Narzissmus des Lesers an. Zukünftig werden Roboter solche Geschichtchen massenhaft ausspucken.
Read 5 tweets
Jan 9
Das ist eine sehr interessante Frage -- man kann sie sprachlich aufschlüsseln: "In was für einer Zeit leben wir?"
Wonach wird gefragt -- offensichtlich nach einer Eigenschaft x, die unser Zeitalter mit anderen, vorangehenden Zeitaltern gemeinsam hat. 🧵
Es ließe sich dann hoffen, dass sich aus einer solchen Analogie zumindest grobe Abschätzungen bezüglich des weiteren Geschichtsverlaufs ziehen ließen. Dies ist jedoch sehr schwierig. Alle Versuche, eine allgemeine "Theorie der Menschheit" und ihrer Geschichte aufzustellen...
...sind bislang gescheitert.

Die ältesten dieser Versuche waren theologischer Natur. Man deutete das Weltgeschehen im Kontext von Göttersagen. In Westeurasien wurde die abramitische Mythologie und ihr Erlösungsversprechen besonders einflussreich.
Read 51 tweets
Jan 8
"Wir haben europaweit den größten elektronischen Fuhrpark im ÖPNV, wir haben das erste elektronische Feuerwehrauto..."

In der Grundschule hatte ich einen Mitschüler, der elektrische Geräte immer als "elektronisch" bezeichnete, da er den Klang dieses Wortes wohl interessant fand.
Er nannte z. B. die elektrische Zahnbürste seines Vaters "elektronische Zahnbürste".

(Elektrische Geräte zeichnen sich, im Gegensatz zu elektronischen, dadurch aus, dass die Quantisierung der Ladung zum Verständnis ihrer Funktionsweise irrelevant ist: Motoren, Spulen, Schalter..
...Kondensatoren, Glühlampen, etc. Dioden, Röhren, Transistoren, ICs usw. dagegen sind elektronisch. Allerdings enthalten heutzutage nahezu alle Elektrogeräte auch elektronische Komponenten.)
Read 4 tweets
Dec 12, 2022
"Beim Kollaps der Wellenfunktion in der Quantenmechanik wird Information instanten übertragen" -- wird öfters von Wissenschaftlern provokant geäußert und Journalisten wittern schon den überlichtschnellen Weltallfunk.

Stimmt das? Widerspricht es der Relativitätstheorie? 🧵
Wer schon einmal zugesehen hat, wie Regentropfen auf einen Teich fallen, wird bemerkt haben, dass Wasserwellen interferieren: ihre Amplituden addieren sich. Wo Wellenberge aufeinandertreffen, entsteht eine doppelt so hohe Welle, trifft Wellenberg auf Tal, bleibt das Wasser glatt.
In bestimmten Ozeanregionen entstehen auf diese Weise sog. "Killerwellen": mehrere Wellenberge türmen sich übereinander zu einer turmhohen Wasserwand, die sogar einen Containerriesen umwerfen kann.
Read 58 tweets

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