Thread by @CuriepolisBuch

Wer in das Thema #Afrika tiefer einsteigen möchte, dem empfehle ich folgendes Buch:
Ahmadou Kourouma: "Die Nächte des großen Jägers"

https://twitter.com/CuriepolisBuch/status/1649531309272776705

Wenn ich ein neues Buch in der Hand halte, mache ich meist den "Eins-und-Neunundneunzig-Test": das bedeutet, ich lese die erste und die neunundneunzigste Seite und schaue, ob mir der Text gefällt. "Die Nächte des großen Jägers" bestand den Test mit flatterndem Banner.

Ich verschlang den Roman im Laufe einiger Nächte -- analog zur Handlung: Diktator Koyaga, Herrscher über die fiktive "Golfrepublik" in Westafrika, hat seinen Hofpoeten, einen sog. Griot, und den Hofnarren zu sich kommen lassen. Sie sollen ihm ein Epos über sein Leben vortragen.

(^Bild: ein Griot mit seinem typischen Instrument, der Kora -- ein Zwischending aus Harfe und Laute.) Der Sänger erzählt daraufhin die Vita tyrannica. Von den Eltern Koyagas, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter paläolithischen Bedingungen in den Bergen lebten...

...über den Indochinakrieg, in dem Koyaga, wie schon sein Vater im 1. Weltkrieg, als "Senegalschütze" dient um nach seiner Heimkehr in die Regierung des inzwischen unabängigen Staates aufzusteigen und sich an die Macht zu putschen...

...bis zum Kalten Krieg, in dem jeder afrikanische Staat sich mit diesem oder jenem Machtblock zu alliieren sucht -- Koyaga mit USA/NATO --, Zusammenbruch des Ostblocks, wirtschaftlichen Krisen und Aufständen, die in der Verwüstung seiner persönlichen Residenz gipfeln.

Den Plünderern fallen auch ein als magisch geltender Meteorit und eine Ausgabe des Koran, der ebenfalls magische Kräfte zugesprochen werden, zum Opfer -- Koyaga hat diese von seiner Mutter, die als große Zauberin und Prophetin galt.

Wenn der Stein und der Koran je gestohlen würden, so solle er einen Griot herbeirufen, der ihm die Geschichte seines Lebens vorsinge, und einen Narren -- einen Mann, der gerade ein Reinigungsritual durchläuft und alles, auch das respektloseste, sagen darf.

Damit erreicht die vom Griot gesungene Handlung die Gegenwart, der Roman endet, das weitere Schicksal Koyagas -- Exil in der Schweiz? Rückeroberung der Macht? -- bleibt offen.

Das Herausragende an dem Roman ist, dass er die moderne Geschichte Afrikas einerseits mit laserscharfem Blick betrachtet und (insbesondere mit der Stimme des Narren) kein Blatt vor den Mund nimmt: ja, die Kolonialmächte haben übel und sadistisch gewütet --

-- jedoch sind die Probleme des modernen Afrika nicht ausschließlich auf sie zurückzuführen: auch uralte Gewohnheiten und kulturelle Besonderheiten, die zum Teil auf die Lebensweise steinzeitlicher Völker zurückgehen, erschweren den Aufbau von Wirtschaft und Demokratie.

Dabei vermag Kourouma es, den Leser die Welt durch die Augen der Akteure betrachten zu lassen: und zwar aller Akteuere -- man versteht die Afrikaner, aber auch die Portugiesen und Franzosen, insbesondere aber Koyaga, den Diktator!

Man lebt mit Koyaga mit, schaut durch seine Augen, vollzieht seine Gedanken und Empfindungen nach und begreift, warum er Diktator wurde und so handelt, wie er handelt und ertappt sich dabei, ihm Glück zu wünschen und aufzuatmen, wenn ein Attentatsversuch scheitert.

Und zum Schluss denkt man: ist er, dieser Gewaltherrscher, der politische Gegner foltern lässt und hinrichtet, jetzt wirklich ein abgrundtief böser Mensch -- oder einfach ein Jäger aus einer steinzeitlichen Gesellschaft, der so handelt, wie es für ihn naheliegend ist?!

Die Sprache ist bildhaft, anschaulich und sehr präzise: man steht mitten drin im Geschehen und lernt viel über die Kulturen Afrikas.

Mein Lieblingskapitel ist übrigens jenes, in dem Koyaga mehrere seiner afrikanischen Diktatorenkollegen besucht.

Diese und ihre Nationen werden nie namentlich genannt -- die Diktatoren werden anhand ihres Totems (Leopard, Geier, etc.) bezeichnet -- man erkennt jedoch deutlich, welche Politiker gemeint sind: u.a. Mobutu, der das Thema "Leopard" sogar in seine Garderobe integrierte...

...und den zentralafrikanischen Kaiser Bokassa mit dem Geiertotem, der dem Prunk der napoleonischen Ära nacheiferte.

Wer also schon immer einmal den literarischen Nahblick auf Afrika richten wollte -- oder einfach einmal die Welt mit den Augen eines Diktators betrachten möchte -- dem seien "Die Nächte des großen Jägers" uneingeschränkt empfohlen!

5 von 5 Leopardenfellmützen!

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