Thread über das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus. @gerhard_mangott macht hier einen Gegensatz zwischen Aktivismus und Wissenschaft auf. Worauf basiert die Annahme eines Gegensatzes? Aktivistisch im Sinne Karl Poppers ist der/diejenige, die zur „Aktivität“ neigen
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und eine „Haltung des passiven Hinnehmens“ ablehnen. In diesem konkreten Fall bedeutet das, dass Osteuropa-Fachleute und Politolog:innen seit der Totalinvasion in einer hochpolitischen Debatte nicht passiv bleiben, sondern sich in der Debatte positionieren und auch
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Forderungen formulieren. Warum sollte das, wie Mangott und andere suggerieren, einem „Auszug“ aus der Wissenschaft gleichkommen? Die meisten Expert:innen beziehen im Gegenteil auf Grund ihrer Expertise Position und werden auch deswegen von den Medien gefragt. Natürlich
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spielen dabei auch persönliche Werte eine Rolle. Eine objektive Analyse anzustreben (geschenkt, dass niemand 100% objektiv sein kann) ist nicht dasselbe, wie zu dieser Analyse eine neutrale Positione einzunehmen. Empirisch gesichert ist, dass Russland, eine Diktatur,
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ein friedliches Land angegriffen hat. Selbstverständlich kann man aus dieser Analyse unterschiedliche Schlüsse ziehen. Gerade dadurch dass diese Wissenschaftler:innen ihre eigenen Überzeugungen und Wertesysteme kommunizieren, machen sie diese transparent und reflektieren
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ihre eigene Zeit- und Standortgebundenheit. Aus meiner Sicht agieren diejenigen Wissenschaftler:innen, die sich als nicht-aktivistische, vermeintlich sachlichere Kommentator:innen inszenieren und ihren Kolleg:innen die Wissenschaftlichkeit absprechen, viel unseriöser.
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Statt zu argumentieren, versuchen sie durch einen behaupteten Gegensatz zwischen Aktivismus und Wissenschaft, ihre „Gegenspieler:innen“ zu diskreditieren. Das hat @AMFChina hier auf den Punkt gebracht. Meister in dieser Disziplin ist der ordentliche
Professor V. von der Uni H. an der S. (#DontMentionTheVar), der sich ironischerweise durch das Ignorieren von Gegenargumenten, Quellen & das Verbreiten von Falschaussagen selbst wissenschaftlich (zumindest bei diesem Thema) komplett demontiert hat.
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Und natürlich ist seine Position (gegen Waffenlieferungen) nicht weniger aktivistisch als die Gegenposition (für Waffenlieferungen), er hat sich aber nicht durch seinen Aktivismus disqualifiziert, sondern durch seine Argumentationsweise. Insgesamt ist auffällig,
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dass oft gerade diejenigen, die eher durch russlandfreundliche Positionen auffallen und ein Desinteresse an der Ukraine zeigen, sich besonders darin hervortun – implizit oder explizit – immer den anderen Aktivismus zuschreiben und diesen negativ zu bewerten.
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Jüngstes Beispiel ist Alexander Libman, der bei einer Phoenix Diskussion keinen Anzeichen für russischen Imperialismus sehen konnte (what?! Quellenstudium?!), die Forderungen der Ukraine für zu weitgehend hielt, aber kein Wort über die russische Vernichtungsabsicht verlor.
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In einem Beitrag für die @laenderanalysen unterstellte er jüngst Kolleg:innen Aktivismus bzw. eine Anmaßung von Kompetenzen, die sie gar nicht hätten (). Als „normativ“ stempelt Libman die Forderung nach einer „Dekolonisierung“ der Osteuropa-Studien
12/17laender-analysen.de/russland-analy…
ab und ignoriert dabei, dass dekoloniale Perspektiven selbstverständlich auch einen analytischen Wert haben. Ich finde es problematisch, sich selbst implizit oder explizit als rational und sachlich zu inszenieren, selbst wenn es „nur“ durch eine Abgrenzung den
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vermeintlich in den Aktivismus abgedrifteten Kolleg:innen geschieht. Das ist nichts weiter als ein performativer Akt. Über die Qualität der eigenen Argumente sagte das gar nichts. P.S.: Besonders gerne wird jungen, weiblichen, nicht-weißen Wissenschaftlerinnen Aktivismus
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zugeschrieben.Neulich hielt @BotakozKassymb1 einen genialen Vortrag bei einer Konferenz über unterschiedliche Formen des Kolonialismus. Nach ihrem Vortrag sagte die Moderatorin: „Wow you sound much more like an activists than like a scholar.“ Nummer 1: bei einem Mann
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hätte sie sich wahrscheinlich für die „thought-provoking, brilliant lecture“ bedankt. Nummer 2: Klar, Bota ist eine Aktivistin. Vor allem aber ist sie eine herausragende Wissenschaftlerin. Bota und ich haben übrigens nie geplant, Aktivistinnen zu werden, aber auf
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Grund unserer wissenschaftlicher Expertise und auch auf Grund unserer persönlichen Werten, haben wir und viele andere sich in diesem Krieg für eine aktivistische Rolle entschieden und gegen eine „Haltung des passiven Hinnehmens“.
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Unglaublich. In diesem Buch (v. 2019 im Wissenschaftsverlag (!) @BoehlauVerlag) stehen krasse Falschinformationen über das größte 🇩🇪Einzelmassaker an sowjetischen Jüdinnen und Juden in Babyn Jar in der Nähe von Kyjiw. Autor Kellmann sagt: vor allem Ukrainer haben geschossen. 1/5
Quellen zu dieser Behauptung? Logischerweise nicht eine einzige. Tatsächlich wurde das Massaker gemeinsam von SS und Wehrmacht geplant, lokale Hilfspolizisten halfen vor allem dabei Jüdinnen und Juden zu identifizieren und zum Ort des Verbrechens zu treiben. Geschossen
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haben die SS-Männer, die Wehrmacht hat bei Planung und Durchführung geholfen.
Es ist ein grundsätzliches Problem in 🇩🇪, dass es in Wissenschaftsverlagen kein Gutachterverfahren gibt, aber das ist mehr als schlechte Wissenschaft. Wie konnte das passieren @BoehlauVerlag?
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Als Historikerin habe ich immer versucht zu verstehen, warum so viele Deutsche behaupten konnten "wir haben es nicht gewusst" - obwohl die jüdischen Nachbar:innen plötztlich "verschwanden", es so viele Konzentrationslager in🇩🇪 gab, obwohl Zwangsarbeiter:innen aus ganz Europa
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nach Deutschland verschleppt wurden. Und vor allem: obwohl die Nazis nie ein Geheimnis aus ihren Zielen und Methoden gemacht haben. Und jetzt haben wir einen in Echtzeit umfassend dokumentierten Krieg und Menschen schreiben, dass man doch gar nicht wissen könne, was den
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Ukrainer:innen unter🇷🇺 Besatzung geschieht. Vor solchen Reaktionen (von Leuten, die Zeitung lesen etc.) stehe ich ratlos als Historikerin. Wie erklären? Ich glaube, dafür braucht es Zusammenarbeit mit Psycholog:innen, die uns die Macht der Verdrängung erklären können.
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Heute im Seminar ging es um den Majdan von 2013/14. Neben Texten haben wir auch Aufnahmen auf dieser Zeit angesehen. Es waren bewegende Einblicke in dieses Schlüsselereignis ukrainischer Geschichte, heute noch einmal ganz besonders.
Eine kleine Auswahl:
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Ukrainer:innen singen auf dem Majdan die Europa-Hymne (Beethoven) mit neuem Text Ende November 2013: .
Zwar nicht auf dem Majdan, aber ebenfalls sehenswert: der Flashmob auf dem Fischmarkt Odessa 2014, kurz nach dem 🇷🇺Angriff: https://t.co/y35pmZaUMD
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Beides zeigt wie "Europa" schon damals für viele in der 🇺🇦Hoffnung und Freiheit symbolisierte.
Das Lied "Vitja, Ciao" gemünzt auf den damaligen korrupten & autokratischen, aber eben auch lächerlichen Präsidenten Janukowytch. Mit Untertiteln:
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I have been listening to the fantastic @BotakozKassymb1 in recent days speaking not only about (Russian/Soviet) colonialism, but also about how colonial structures and knowledge are still part of academia and how we are all part of it. A thread.
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Bota's analysis made me think about my encounters with senior scholars as a PhD-candidate, many (but not all) from Russia, who teach at top-institutions in the West and are thus very well integrated into the international scholarly community.
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In 2009 I decided to write my dissertation on Muslims in the Russian imperial army, the majority of whom were Tatars. For me it was clear, if I do this topic, I will only do it with Tatar sources alongside Russians.
I have just met Nadya (in a really trendy cafe in Lviv!). She and Volodymyr are just thrilled that so much money has been collected. Thank you so much! The campaign is still open for 14 hours. More support is always welcome!
Nadya will make a big trip to the local metro 1/3
supermarket to buy what Volodymyr needs for the children in Kherson next week and prepare the packages. However, in view of the high sum, Volodymyr will also invest some of the money in his children’s support center in Kherson (education material, furniture etc.) He has a
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Facebook Account where he documents his work: m.facebook.com/p/Володимир-Са… All fund collected will support his efforts to help children many of whom are traumatized.
Again, thank you all so much!!
💛💙
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Neulich habe ich darüber getwittert, dass meine Freundinnen aus Russland zum 9. Mai überhaupt keine 🇷🇺Fahnen schwenken wollen, weil sie an der Seite der Ukraine stehen. Neben positiven Rückmeldungen gab es auch Kommentare wie "nur keine 🇷🇺Fahnen schwenken" reicht aber nicht
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und die implizite Unterstellung, dass auch Russ*innen, die gegen den Krieg sind, passiv seien. Das stimmt sicher in einigen evtl. auch vielen Fällen, aber ganz sicher nicht immer. Meine Freundinnen haben sich gegen den Krieg positioniert, auch in den sozialen Medien,
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und zahlen dafür einen hohenPreis (anders als ich übrigens). Sie können nicht zurück, laufen Gefahr verhaftet und verschleppt zu werden. Ihre Familien sind noch da und evtl. sehen sie sie nie wieder. Sie beklagen sich darüber nicht, sagen, dass das im Vergleich zu dem Leid
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