Thread by @simone_madame

Niemals hätte ich gedacht, dass meine Entscheidung für die Sexarbeit, so weitreichende und positive Veränderungen in meinem Leben anstoßen würde. Mir ist bewusst, dass das nicht die Regel ist, aber es ist meine persönliche Erfahrung. Ein kleiner Thread.

Ich habe ja keinen Schulabschluss gemacht, und bin mit 17 von zu Hause ausgezogen. Erst habe ich meine Kinder bekommen, ehrenamtlich gearbeitet, und dann Jobs im Einzelhandel, im Call Center, in Postabwicklungen etc. gemacht. Alles keine sehr gut bezahlten Jobs, alle ohne eine

Ausbildung. Erst Mitte 30 habe ich eine überbetriebliche Ausbildung zur Kauffrau abgeschlossen. Und schnell festgestellt, dass mich das weder fordert noch irgendwie fördert im Leben. Es hat halt etwas Geld gebracht, wobei ich nie einen Stundenlohn von über 12.50€ hatte.

Seit ich mit der Sexarbeit begonnen habe, kann ich nicht nur meine Arbeitszeiten selbst bestimmen, und auf meine chronischen Erkrankungen und die Belange meiner Familie Rücksicht nehmen, ich kann auch viel besser (und öfter) "Nein, Danke." sagen. Ich muss vor keinem Chef recht-

fertigen, warum ich einen Kunden nicht bedienen will. Ich muss nicht "mal eben einspringen", ich habe bei Krankheit zwar immer im Kopf, dass ich nicht verdienen kann, aber ich muss auch nicht früher als gut für mich ist wieder arbeiten, weil ich sonst Vorgesetzte im Nacken habe.

Was aber völlig neu für mich ist - die Menschen sind interessiert an dem was ich sage. Ohne die Sexarbeit hätte ich nicht ganz wundervolle und kluge Menschen aus Medizin, Forschung, Wissenschaft und Beratung kennengelernt. Ich hätte nicht zusammen mit @DariaStuttgart die

Möglichkeit gehabt, einmal die Erfahrung zu machen, wie es ist eine Konferenz von der Idee bis zum tatsächlichen Event zu planen und umzusetzen. Ich hätte auch nicht einen Workshop für Fachpersonen am Fachtag Sexualität und Psyche geben, Vorträge halten, Texte veröffentlichen,

und unglaublich viel von den verschiedensten Kolleg*innen lernen können! Mein halbes Leben hat an mir genagt, dass ich eben keinen Schulabschluss, kein Abitur, keinen akademischen Werdegang habe. Etwas, was ich mir als Teenagerin noch ausgemalt habe. Es hat an mir genagt, dass

ich immer die in einer Gruppe Menschen war, die eben nicht studiert hat. Die ja "nur" im Geschäft steht oder im Call Center sitzt. Was natürlich vollkommener Quatsch ist, aber es sind nun mal meine Emotionen. Mit Sexarbeit kam nicht nur ein sehr erfüllender Beruf in mein Leben,

sondern auch noch sehr viel mehr. Es kam auch eine Aufgabe dazu, die mir sehr am Herzen liegt - die Arbeit für Anerkennung und bessere, sichere Arbeitsbedingungen, der Kampf gegen Stigmatisierung, die Möglichkeit Menschen aufzuklären. Und der bizarre Umstand, dass ich und das was

ich zu sagen habe, sehr viel ernster genommen wird, als zu dem Zeitpunkt in meinem Leben, wo ich hinter einer Kasse gestanden, oder mit Headset auf dem Kopf gearbeitet habe. Ich wünsche mir diese Möglichkeiten für alle meine Kolleg*innen, und mir ist absolut bewusst, dass es

wirklich ein Privileg ist, wie sich das alles entwickelt hat. Klar habe ich auch daran gearbeitet. Vorträge und Workshops, Konferenzen und Texte entstehen nicht durch ein Schnippen. Aber ich hätte die Möglichkeit dazu früher einfach nicht gehabt. Da war ich "nur die Mama" von 2

Kids, die mit schlecht bezahlten Jobs mit 180h im Monat, mehr oder weniger gut über die Runden kam, aber ganz sicher niemand, dem man mal sagt "Ich fand Ihren Vortrag so beeindruckend, würden Sie auch in XYZ einen Vortrag für uns halten?"
Ich bin extrem dankbar dafür, dass ich

diese Möglichkeiten heute habe! Denn auch ich hatte und habe immer wieder mit Gefühlen von Unzulänglichkeit, hat nichts "geschafft" etc. zu kämpfen. Auch heute ist mein Imposter Syndrom noch recht ausgeprägt. Aber eines kann ich sagen: es ist für mich auf sehr vielen Ebenen

sehr vieles besser geworden, seit ich die Möglichkeit hatte, mich für meinen Beruf zu entscheiden.