Gregor Wakounig Profile picture
Japanologe, Koroški Slovenec GER/SLO/CRO/ENG/日本語 日本のアンティファ運動を研究しています Freier Journalist フリー・ジャーナリスト @kaz_zeitung @Jungle_World Übersetzer (JAP/SLO-GER)

Nov 12, 2021, 21 tweets

In meinem allerletzten Uniseminar vor dem Abschluss befasse ich mich mit einem richtigen Herzensthema.
Es geht um selbstverwaltete, linke studentische Räume in Japan.
Ein Teil linker Bewegungsgeschichte- und Gegenwart, der außerhalb Japans kaum Beachtung findet. Ein Thread.

Am Anfang etwas historisches Vorwissen.
1948 wurde in Japan das "Alljapanische Föderation studentischer Selbstverwaltungsräte" gegründet. Im Westen ist die Organisation eher unter ihrer Abkürzung "Zengakuren" (全学連) bekannt. (Bild is aus den 60ern btw).

Diese "Selbstverwaltungsräte" wurden nach dem Krieg vor allem von kommunistischen Soziologie-StudentInnen gegründet. Sie waren eine Gegenthese zu den vom faschistischen JP Staat installierten staatstreuen StudentInnenorganisationen, welche 1945 aufgelöst wurden (siehe Bilder)

Eine der zentralen Forderungen des Zengakuren war von Anfang an die Schaffung autonomer Strukturen auf den Uni-Campussen. Dazu gehörten nicht nur eigene Gebäude, in denen verschiedene studentische "Circles" ... (Bild: Circle-Gebäude Uni Yokohama)

... (= kleine Vereine, deren Aktivitären von Schachspielen bis hin zu Politik reichen) ihre Heimstätte hatten.
Auch die Schaffung selbstverwalteter StudentInnenheime gehörte dazu. Im Bild das selbstverwaltete Kumano-StudentInnenheim in Kyoto.

Spätestens ab den 50ern hatten die meisten japanischen Unis zumindest ein selbstverwaltetes StudentInnenheim und/oder ein Gebäude für die Circles. Man handelte sich Verträge mit d. Uni aus. Was wegen der Mitgliedszahlen beim Zengakuren (mehrere 100.000) leichter durchzusetzen war

In den 60ern wurde die linke StudentInnenbewegung dann ein gesellschaftlicher Faktor. Militante Demonstrationen mit zehntausenden TeilnehmerInnen waren keine Seltenheit.
Die autonomen studentischen Räume waren die Zentren der Bewegung.

Der Staat wusste das auch. Liest man sich Aufzeichnungen des Fuchuu-Wohnheims der Hosei-Universität durch, ist die ganze Zeit von Hausdurchsuchungen seitens der Polizei sowie Druck seitens der Uni-Leitung, das Heim zu Räumen, zu lesen.

Auf JP hier: ja.wikipedia.org/wiki/%E6%B3%95…

In den 60ern begann der "Kampf um die Campusse" (学園闘争). Auf dutzenden Unis wurden die autonomen Strukturen verstärkt, teilweise mittels Barrikaden und bewaffneten Wachen. Der Höhepunkt dieses Konflikts war die Besetzung der als Elite-Uni bekannten Uni Tokio im Jänner 1969.

Die Besetzung wurde nach mehreren Tagen erbitterten Kampfs gegen eine Armee an PolizistInnen aufgegeben, man machte weltweit Schlagzeilen.
Was jedoch oft untergeht: Neben der Uni Tokio gab es auch Besetzungen auf verschiedenen anderen Unis. Manche davon hielten sich noch Jahre.

Spätestens in d. 80ern fängt der Staatsapparat an, noch stärker gg. autonome Räume vorzugehen. In Bildungsreformen wird d. Kampf gegen Räume explizit festgeschrieben. Gleichzeitig ist die student. Linke im Niedergang. Manche Orte werden auch schlicht aus Personalmangel aufgegeben

Weitere Bildungsreformen in den 90ern führen dazu, dass auch staatliche Universitäten mehr und mehr zu profitorientierten Unternehmen mutieren. Rechte Ideologen sprechen offen davon, die Geisteswissenschaften abschaffen zu wollen, da diese ...

a.) Wirtschaftlich nicht rentabel seien

und

b.) Eine Brutstätte linker Ideologien seien
(Bild: Plakat in unbekanntem Campus: "Kein Entritt für den Verfassungsschutz!")

Anfang der 2000er verliert die Bewegung einige ihrer wichtigsten Räume. In Tokio die Kellerräume der Waseda-Universität und das Komaba-Wohnheim der Uni Tokyo. Beide werden von 100en Polizisten/Securities gewaltsam geräumt.
2004 folgt noch das "Studentenhaus" der Hosei-Universität

Um eine Idee dafür zu bekommen, wie massiv diese Orte waren: Wir sprechen hier von mehrstöckigen Gebäuden auf mehreren 1000 Quadratmetern.
Drinnen waren: Bibliotheken, Arbeitsräume, Proberäume, Konzerthallen, Kampfsport-Übungsräume, feministische Räume, Küchen, Bars, Büros etc.

Autonome Räume gibt es noch heute auf JP Unis. Besonders die UniKyoto beherbergt viele. Das derzeit besetzt gehaltene Yoshida-Wohnheim + das von kommunistisch. StudentInnen verwaltete Kumano-Wohnheim seien hier erwähnt.
Ich hab 1 Artikel darüber geschrieb. jungle.world/artikel/2020/1…

Interessant ist auch, wie wenig Bewusstsein für autonome student. Räume es innerhalb der Linken in JP zu geben scheint. Unzählige Male hab ich von JP AktivistInnen gehört, wie toll doch Europa mit all den Squats sei.
Dass man auch solche Strukturen hat, scheint man zu vergessen.

Hajime Matsumoto, auch in Europa bekannter Anarchist aus Tokio, beschreibt in seinem Buch "Idiotenaufstand: Eine Anleitung wie man beknackte Räume eröffnet" zwar eine Vielzahl linksalternativer Orte in ganz Japan und Asien, aber von den autonomen Studiheimen liest man darin nix

Andererseits ist es aber auch so, dass in Japan vielen AktivistInnen schlicht eine Vorstellung davon fehlt, dass es woanders in der Welt auch das Konzept autonomer Räume (AZs, besetzte Häuser, Kommunnen etc.) gibt ...

Als ich mal im Yoshida-Wohnhaus war, fragten mich die BesetzerInnen doch tatsächlich, was das HausbesetzerInnenzeichen bedeutet, womit sich BesucherInnen aus Tschechien auf einer Wand verewigten.
Bild: Plakat für Vortrag über besetzte Häuser in GER/AUT im Yoshida-Wohnheim, Kyoto

Wie dem auch sei.
Das war nur mal ein sehr kurzer und oberflächlicher Einblick in autonome studentische Räume in Japan.
Über Feedback und Fragen freu ich mich immer :)

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