Steffen Siegel Profile picture
Optimistic Berliner • Professor for the Theory and History of #Photography @FolkwangUni • Member @FotoFolkwang & https://t.co/rHBFduJsOC • Private account

Sep 8, 2022, 15 tweets

Dürfte ich von allen Bildern, die ich auf der #documenta15 aufgenommen habe, nur ein einziges auswählen, um zu zeigen, was es dieses Jahr in Kassel zu sehen gab, so wäre es vielleicht dieses hier. Es fasst meine Eindrücke gut zusammen. Ein kleiner Thread. /1

Direkt zur Eröffnung hat Bazon Brock von der „besten documenta aller Zeiten“ gesprochen — selbst wenn man einmal die aufmerksamkeitsökonomische Übertreibung abzieht, fällt es nach all den notwendigen Diskussionen um Antisemitismus auf der documenta 15 schwer, ihm zuzustimmen. /2

Es ist richtig, dass bestimmte Arbeiten, die ohne antisemitische Stereotype, Klischees und Ausfälle nicht auszukommen meinten, nicht mehr zu sehen sind. Richtig ist es aber auch, auf gerade das genauer zu achten, was diese 15. Ausgabe auf eindrucksvolle Weise ausmacht. /3

Denn das ist ja der Grund, warum wir alle fünf Jahre nach Kassel fahren: Die documenta erprobt Neues, manche Ausgaben werden inzwischen schlagwortartig verkürzend darauf festgelegt: Pop Art (Nr. 4), Medien (Nr. 6), Theorie (Nr. 10), Global Art (Nr. 11), Postautonomie (Nr. 14). /4

Ob die Nr. 15 die, wie Brock meinte, beste ist, sei dahingestellt. Aber eine besonders wichtige ist sie aus meiner Sicht auf jeden Fall. Die einhundert Tage dieses Kasseler Sommers sind ein Experiment in, wie man heute sagt, ,unlearning‘ — eine Herausforderung des Blicks. /5

Es fällt ja sofort auf, wie gründlich der Kunstmarkt ausgeladen war: fast gar keine etablierten Künstler:innen, keine „große Namen“. In Venedig landen alle zwei Jahre die Yachten der Supersammler an, auf der Fulda hätte sie es eh schwer, wären aber sowieso fehl am Platz. /6

Jenseits dieser Happy (?) Few gibt es aber auch für alle anderen ein Programm des ,Unlearning‘: Fast alle Leitbegriffe in der Auseinandersetzung mit Kunst sind suspendiert oder geraten doch auf bemerkenswerte Weise ins Schwimmen, werden auf produktive Weise löchrig. /7

Autorschaft, Werk, Materialität, Medien, Ikonografie, Tradition, Schönheit, Qualität — das ließe sich mühelos so verlängern. Es ist eine kaum weniger als aufregende Erfahrung, den ganzen erlernten Vorrat an Begriffen abgenommen zu bekommen und durchaus herum zu stolpern. /8

Platz zum Stolpern gibt es bemerkenswert viel: Das große Kurator:innen-Team hatte keine Scheu, die traditionell wichtigsten Orte der documenta unbespielt zu lassen oder aber zu nüchternen Durchgangsräumen zu machen. Das wirkt durchaus lieblos, auf jeden Fall ungefällig. /9

Kunst im öffentlichen Raum, eigentlich ein Trademark fast aller bisherigen Ausgaben (die Eichen von Beuys, der berühmte Skywalker oder beim letzten Mal die Bücher-Akropolis), gibt es nur in zögerlicher Form; und manchmal auch wirklich als verunglückten Kitsch. /10

Aber wer so urteilt, geht vielleicht am Kern dieser documenta vorbei: Sie ist eine Einladung zu offenem Diskurs, zur Debatte über die wohl wichtigste Frage, die wir uns stellen können: Wie wollen wir künftig zusammen leben? Wieso sollten solche Debatten sofort gelingen? /11

Gerade deshalb sind all diese Orte, an denen sich zusammen sitzen lässt, vielleicht der entscheidende Teil dieser Ausstellung. Abhängen heißt auf Indonesisch ,nonkrong‛. Vielleicht sprechen wir später mal von der Nonkrong-documenta? /12

Sehen jedenfalls ist auf dieser documenta nur ein Sinn von vielen. Wer für visuelle Kulinarik angereist war, wird ärgerlich wieder abreisen. Mit der Ausladung des Kunstmarkts verband sich die Einladung an ein Publikum, jenseits der Logik ökonomischer Verwertung von Kunst… /13

… über ihre möglichen gesellschaftsstiftenden Funktionen nachzudenken. Man kann das naiv finden oder auch romantisch. Ein Gegenargument kann ich darin allerdings nicht erkennen. Ob es gelingen kann? Es wird sich schwerlich jetzt schon entscheiden lassen. /14

Wieso also dieses Bild? Kunstbetrachtung spielt nur am Rand eine Rolle, im Zentrum stehen offene, unbespielte Räume. Oft mögen es bloß Projektionsflächen sein. Es könnte aber auch etwas entstehen, was wichtig werden wird. Ernster kann man eine Kunstausstellung nicht nehmen. /15

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