Dürfte ich von allen Bildern, die ich auf der #documenta15 aufgenommen habe, nur ein einziges auswählen, um zu zeigen, was es dieses Jahr in Kassel zu sehen gab, so wäre es vielleicht dieses hier. Es fasst meine Eindrücke gut zusammen. Ein kleiner Thread. /1
Direkt zur Eröffnung hat Bazon Brock von der „besten documenta aller Zeiten“ gesprochen — selbst wenn man einmal die aufmerksamkeitsökonomische Übertreibung abzieht, fällt es nach all den notwendigen Diskussionen um Antisemitismus auf der documenta 15 schwer, ihm zuzustimmen. /2
Es ist richtig, dass bestimmte Arbeiten, die ohne antisemitische Stereotype, Klischees und Ausfälle nicht auszukommen meinten, nicht mehr zu sehen sind. Richtig ist es aber auch, auf gerade das genauer zu achten, was diese 15. Ausgabe auf eindrucksvolle Weise ausmacht. /3
Denn das ist ja der Grund, warum wir alle fünf Jahre nach Kassel fahren: Die documenta erprobt Neues, manche Ausgaben werden inzwischen schlagwortartig verkürzend darauf festgelegt: Pop Art (Nr. 4), Medien (Nr. 6), Theorie (Nr. 10), Global Art (Nr. 11), Postautonomie (Nr. 14). /4
Ob die Nr. 15 die, wie Brock meinte, beste ist, sei dahingestellt. Aber eine besonders wichtige ist sie aus meiner Sicht auf jeden Fall. Die einhundert Tage dieses Kasseler Sommers sind ein Experiment in, wie man heute sagt, ,unlearning‘ — eine Herausforderung des Blicks. /5
Es fällt ja sofort auf, wie gründlich der Kunstmarkt ausgeladen war: fast gar keine etablierten Künstler:innen, keine „große Namen“. In Venedig landen alle zwei Jahre die Yachten der Supersammler an, auf der Fulda hätte sie es eh schwer, wären aber sowieso fehl am Platz. /6
Jenseits dieser Happy (?) Few gibt es aber auch für alle anderen ein Programm des ,Unlearning‘: Fast alle Leitbegriffe in der Auseinandersetzung mit Kunst sind suspendiert oder geraten doch auf bemerkenswerte Weise ins Schwimmen, werden auf produktive Weise löchrig. /7
Autorschaft, Werk, Materialität, Medien, Ikonografie, Tradition, Schönheit, Qualität — das ließe sich mühelos so verlängern. Es ist eine kaum weniger als aufregende Erfahrung, den ganzen erlernten Vorrat an Begriffen abgenommen zu bekommen und durchaus herum zu stolpern. /8
Platz zum Stolpern gibt es bemerkenswert viel: Das große Kurator:innen-Team hatte keine Scheu, die traditionell wichtigsten Orte der documenta unbespielt zu lassen oder aber zu nüchternen Durchgangsräumen zu machen. Das wirkt durchaus lieblos, auf jeden Fall ungefällig. /9
Kunst im öffentlichen Raum, eigentlich ein Trademark fast aller bisherigen Ausgaben (die Eichen von Beuys, der berühmte Skywalker oder beim letzten Mal die Bücher-Akropolis), gibt es nur in zögerlicher Form; und manchmal auch wirklich als verunglückten Kitsch. /10
Aber wer so urteilt, geht vielleicht am Kern dieser documenta vorbei: Sie ist eine Einladung zu offenem Diskurs, zur Debatte über die wohl wichtigste Frage, die wir uns stellen können: Wie wollen wir künftig zusammen leben? Wieso sollten solche Debatten sofort gelingen? /11
Gerade deshalb sind all diese Orte, an denen sich zusammen sitzen lässt, vielleicht der entscheidende Teil dieser Ausstellung. Abhängen heißt auf Indonesisch ,nonkrong‛. Vielleicht sprechen wir später mal von der Nonkrong-documenta? /12
Sehen jedenfalls ist auf dieser documenta nur ein Sinn von vielen. Wer für visuelle Kulinarik angereist war, wird ärgerlich wieder abreisen. Mit der Ausladung des Kunstmarkts verband sich die Einladung an ein Publikum, jenseits der Logik ökonomischer Verwertung von Kunst… /13
… über ihre möglichen gesellschaftsstiftenden Funktionen nachzudenken. Man kann das naiv finden oder auch romantisch. Ein Gegenargument kann ich darin allerdings nicht erkennen. Ob es gelingen kann? Es wird sich schwerlich jetzt schon entscheiden lassen. /14
Wieso also dieses Bild? Kunstbetrachtung spielt nur am Rand eine Rolle, im Zentrum stehen offene, unbespielte Räume. Oft mögen es bloß Projektionsflächen sein. Es könnte aber auch etwas entstehen, was wichtig werden wird. Ernster kann man eine Kunstausstellung nicht nehmen. /15
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Soll keiner behaupten, dass Literaturrezensionen keine monetäre Wirkung haben! Ich erinnere mich gut, wie ich im September 2000 im Zug saß und im Feuilleton eine mehr als lobende Besprechung von „pech & blende“ von Lutz Seiler las. Von diesem Autor hatte ich noch nie gehört. /1
Nun war die Besprechung aber so, dass ich es selber wissen wollte. Beim Umsteigen in Frankfurt am Main suchte ich in der Bahnhofsbuchhandlung nach dieser Neuerscheinung – und ja, sie war erhältlich! Lyrik in der Bahnhofsbuchhandlung, in den DM-Zeiten schien das noch möglich. /2
Es waren gut angelegte 16,90 DM oder, ab 1.1.2002 dann, 8,50 Euro. Die Fahrt nach Konstanz war noch lang, da kam dieser „dunkel leuchtende Lyriker“ gerade recht. Mit diesen Worten würdigt die Darmstädter Akademie Lutz Seiler anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. /3
Ich weiß nun nicht, ob dieser kleine Thread nun gerade ein Beitrag zu #IchbinHanna ist, aber vielleicht hilft er dazu, ein anekdotisches Schlaglicht auf die Universitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu werfen – mit speziellem Blick auf Arbeitsbedingungen. (1/13)
Ich bin beim Lesen alter Universitätsakten auf die Geschichte eines in seinem Fach sehr berühmten Professors gestoßen, dessen Name ich hier aus Datenschutzgründen nicht nennen will, der aber im betreffenden Fach noch immer einen großen Klang hat. (2/13)
In den 1950er Jahren wurde er von seiner ursprünglichen Hochschule abgeworben, um an der neuen das aufzubauen, was wir heute ein Exzellenzcluster nennen würden. Nicht weniger als europäische Ausstrahlung versprach man sich von ihm. (3/13)
In seinem Nachruf auf Hermann Kinder schreibt Hilmar Klute in der @SZ, dass der Konstanzer Schriftsteller und Germanist bei seinen Studierenden sehr beliebt gewesen sei. Ganz aus meiner Sicht will ich in einem Thread schreiben, warum das stimmt. (1/x) sueddeutsche.de/kultur/gestorb…
Als ich mich 1995 an der @UniKonstanz einschrieb, kannte ich Hermann Kinder schon als Autor des Buches „Fremd – daheim”. Fast verschwörerisch hatte mich eine Freundin, die von meinen Studienpläne wusste, gefragt: „Kennst du Kinder?” und mir dieses Buch geschenkt. (2/x)
Das Buch ist kein schriftstellerisches Hauptwerk, sondern versammelt Gelegenheitstexte – genau richtig, um sich auf eine Studium an der Universität hoch über dem Bodensee einzustimmen. Der darin formulierte Wunsch, diesen See ein einziges Mal ganz ohne Wasser … (3/x)
Als die Nationalgalerie Berlin vor elf Jahren Lotte Lasersteins „Abend über Potsdam“ erwerben konnte, sorgte das für Aufsehen. Eine zu unrecht kaum beachtete Künstlerin rückte in den Fokus der Aufmerksamkeit – ein Thread aus Anlass dieses Bildes (und zu weniger anderer). (1/x)
Nicht nur war erst jüngst eine Retrospektive im @staedelmuseum, im @BG_Museum und der Kunsthalle Kiel zu sehen, vielmehr kündigte die Nationalgalerie an, mit Lasersteins Gemälde ihre neue Dauerausstellung „Die Kunst der Gesellschaft, 1900–1945” eröffnen zu wollen. (2/x)
Seit wenigen Tagen wissen wir, dass es genau so auch gekommen ist. Der Museumsbau von Mies van der Rohe ist, wenn man so sagen kann, wieder ganz der alte, das Feuilleton hat gejubelt und David Chipperfield Architects über den grünen Klee gelobt. (3/x)