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Feb 16, 2023, 20 tweets

Szenen aus dem Erdoğan-Staat: Gestern Abend gab es eine von acht türkischen Fernsehsendern live übertragene Spendengala für die Opfer des Erdbebens. Tatsächlich offenbarte die Show nur die Abgründe des Regimes. Ein Thread 👇

2- Mit 30 Mrd. Lira (knapp 1,5 Mrd. Euro) den größten Betrag kündigte Şahap Kavcıoğlu an, der Präsident der Zentralbank. Diese „Spende“ soll aus dem Bilanzgewinn stammen – der ohnehin an die Staatskasse fließen würde.

3- Insgeamt mindestens 46 Mrd. Lira (ca. 2,3 Mrd. Euro) versprachen die CEOs von Unternehmen, die größtenteils oder ganz im Besitz der öffentlichen Hand sind (u.a. Banken und Turkish Airlines). Dem Volk spenden, was dem Volk gehört.

4- Ebenfalls spendabel: die Handyanbieter TürkCell und Telekom. Im Erdbebengebiet funktionierte tagelang kein Internet, Hilferufe kamen nicht durch. Die Anbieter bestreiten, das Netz gekappt zu haben. Menschenrechtler haben sie trotzdem wegen vorsätzlicher Tötung angezeigt.

5- Per Anruf in die Sendung zugeschaltetet wurden weitere Unternehmer sowie Politiker aus Regierung und Opposition) Künstler und Sportler , die erklärten, wie viel sie spenden möchten. Einer dieser Unternehmer: Mehmet Cengiz . Wer das ist? Ein Thread im Thread 👇

6- Der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde der heute 64-jährige Bauunternehmer Cengiz Anfang 2014 durch ein mitgeschnittenes Telefongespräch. Darin verlockte er: „Wenn Binali Yıldırım [Foto: Mitte] Verkehrsminister wird, werden wir dieses Volk ficken.“

7- Gesagt, getan: Cengiz gehört heute zu den 5 Baufirmen, die alle staatlichen Großaufträge unter sich aufteilen – und mutmaßlich einen Teil ihrer Gewinne für Korruption verwenden. Laut Opposition wurden der „Fünferbande“ in den letzten Jahren 418 Mrd $ Steuerschulden erlassen.

8- Auf der Gala verkündete Cengiz, er werde 3 Mrd. Lira (150 Mil. Euro) spenden. Heute wurde durch das Amtsblatt bekannt, dass die zur Cengiz-Gruppe gehörende Firma Eti Alüminyum für Investitionen 100% Steuernachlass und weitere Subventionen erhalten werde. Präsidentenbeschluss.

9- „Wir werden jeden Groschen für die Erdbebenopfer verwenden“, versprach der zugeschaltete Erdoğan. Als Oppositionelle 2018 nach den Einnahmen aus der Erdbebensteuer gefragt hatten, hatte er sie angeblafft: „Wir haben keine Zeit, über solche Dinge Rechenschaft abzulegen!“

10- Die Spenden sollen zum einen der staatlichen Katastrophenschutzorganisation Afad zugutekommen. Afad steht in der Kritik, bei der Bergung der Opfer versagt zu haben – und vielerorts noch immer nicht elementarste Probleme wie Strom, Unterkunft und Toiletten gelöst zu haben.

11- Kritiker sagen: Afad verfüge über zu wenig und schlecht ausgebildetes operatives Personal und beschäftige zu viele (gut bezahlte) Leute in der Verwaltung. Eine Versorgungstelle für Angehörige des Regimes. Bis 2018 Chef von Afad: Fuat Oktay, stellvertretender Staatspräsident.

12- Obwohl noch immer Überlebende geborgen wurden – so wurde am Donnerstagvormittag in Kahramanmaraş die 17-jährige Aleyna nach 248 Stunden aus den Trümmern gerettet -, hat man mancherorts angefangen, mit schwerem Gerät die Trümmer zu beseitigen. Zu früh, sagen Beoabachter.

13- Ein Teil der Spenden soll an den türk. Roten Halbmond gehen. Aus dem Katastrophengebiet heißt es, der Rote Halbmond sei dort kaum präsent. Ex-Manager werfen der Führung Korruption und Bereicherung vor. Vor 2 Jahren spendete man 9 Mil $ an eine islamistische Skandal-Stiftung.

14- Nach eigenen Angaben bei der Gala nicht durchgelassen wurde der Rockmusiker Haluk Levent, Gründer der humanitären Hilfsorganisation Ahbap. Viele türkische Bürger haben in den vergangenen Tagen an Ahbap gespendet. Auch für Madonna „die beste Adresse zu spenden“.

15- Levent twitterte, er werde trotzdem an den staatlichen Katastrophenschutz spenden. Ein paar Stunden zuvor hatte Devlet Bahçeli, Chef der ultranationalistischen MHP und Erdoğans Verbündeter, Levent und Ahbap angegriffen: „Was haben die getan, was der Staat nicht getan hat?“

16- Beobachter berichten, dass im Katastrophengebiet eine große zivilgesellschaftliche Solidarität zu sehen sei. Das Regime, das nichts und niemanden neben sich duldet, erkennt darin eine Bedrohung - für sich. Darum diese abgeschmackte Spendenshow.

17- Aber Beobachter sagen auch, dass das Ausmaß der Katastrophe unvorstellbar sei und es eine langfristige, koordinierte Aufbauarbeit von Staat und Gesellschaft bedürfe. Das Regime ist derweil in Sorge um sich.

18- Es gibt Berichte über beschlagnahmte LKW. Und in Pazarcık wurde ein Krisenzentrum, das die prokurdische HDP in einem alevitischen Gemeindehaus errichtet hatte, von den Behörden aufgelöst. Was danach aus den Hilfsgütern wurde – während die Gala lief👇

Soweit.

PS: Einen habe ich zu erwähnen vergessen: Ali Erbaş, Chef der Religionsbehörde Diyanet. Er versprach, 310 Millionen Lira (15 Millionen Euro) zu spenden. Nicht aus eigener Tasche, sondern aus dem Budget der Diyanet.

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