Quo vadis, Deutschland und Japan?
Es ist offensichtlich, dass sich unser Land in einer schweren Selbstfindungskrise befindet. Ehemals Export-Weltmeister, Reise-Weltmeister und Fussball-Weltmeister, sind wir heute der kranke Mann Europas, über dessen Gründe für seinen orientierungslosen Irrweg weltweit gerätselt wird.
Wenn man selbst nicht weiter weiß, dann hilft ein Blick in andere Länder mit ähnlicher Ausgangskonstellation. Welches wäre da besser geeignet als Japan? Japan und Deutschland sind beide (noch) Industriegiganten, brachten die größten Autokonzerne und Maschinenbauer hervor. Als rohstoffarme Länder mussten sie auf Erfindungsreichtum, Fleiß und Bildung setzen. Und beide kämpfen nun mit Überalterung und laufender Massenverrentung der Nachkriegsgenerationen.
Im Folgenden habe ich, weitgehend ohne Wertung, nur als Diskussionsgrundlage, einige Zahlen zum Vergleich aufbereitet.
Zuerst schauen wir uns einmal die Demografie an. Die Ausgangslage Mitte der 90er Jahre war in Japan praktisch identisch mit der in Deutschland. Knapp 70 Prozent der Bevölkerung befanden sich im arbeitsfähigen Alter. Doch dann ging die Schere weit auseinander: Der Anteil der über 65-Jährigen hat sich etwa verdoppelt, bei uns ging er immerhin „nur“ um die Hälfte hoch.
Die Geburtenrate in Japan liegt aktuell mit etwa 1,2 Kindern pro Frau selbst unter Industrieländern niedrig, allerdings immer noch höher als in Südkorea mit gar nur 0,7. (de.statista.com/statistik/date…) Mittlerweile hat sich aber die absolute Zahl der Lebendgeburten sogar der im deutlich kleineren Deutschland angeglichen, beide mit stark fallender Tendenz.
Japan ist eine seit Jahrhunderten regelrecht abgeschottete, homogene Gesellschaft und hatte bis vor kurzem keine nennenswerte Einwanderung. Dies ändert sich aber gerade, man strebt eine deutlich erhöhte, kontrollierte Einwanderung von mehreren 100.000 Menschen pro Jahr fast ausschließlich aus dem verwandten südostasiatischen Kulturraum an.
Die Tötungsrate (ohne Selbstmorde) in Japan beträgt ein Viertel der deutschen, und ein Dreißigstel (!) der der Vereinigten Staaten.
Bei der vergleichsweise niedrigen Kriminalitätsrate braucht es auch weniger Gefängnisplätze.
Der Mythos des gesunden, alten Japaners ist vollkommen gerechtfertigt. Die Lebenserwartung ist ganze fünf Jahre höher als in USA, und immerhin noch drei Jahre höher als in Deutschland.
Dazu trägt eine bewusste Lebensweise und gesunde Ernährung bei. Japaner haben einen enorm hohen Konsum an (auch rohem) Fisch.
Die weltweite Wohlstandsseuche Fettleibigkeit spielt in Japan höchstens bei Sumo-Ringern eine Rolle. Bei den Todesursachen liegt sie jedenfalls weit hinten.
Japan hat eine deutliche niedrigere Ärztedichte als Deutschland, die Versorgung ist aber keineswegs schlechter. Man leistet sich sogar mehr Krankenhausbetten, und doch hat man die Ausgaben noch einigermaßen im Griff.
Einen regelrechten Kulturgraben erkennt man in den Beschäftigungszahlen älterer Menschen. Während der Deutsche im Alter seine „besten Jahre“ genießt, hat Japan eine unglaublich hohe Rate an Senioren, die einfach weiterarbeiten, oder sich zumindest in irgendeiner sozialen Form weiter am Gemeinwohl beteiligen.
Dementsprechend hat das offizielle Renteneintrittsalter nicht so eine hohe Bedeutung wie in Deutschland. Nichtsdestotrotz hat auch Japan hier von der einst großzügigen 60er-Regelung hochsteuern müssen auf 64 Jahre. Geschlechterunterschiede gibt es dabei nicht.
Die Staatsquote, also die Gesamtbelastung durch Steuern, Abgaben und Sozialversicherungen, ist vergleichsweise moderat zum europäischen Maßstab.
Japan kämpft seit Jahren nicht mit zu hoher, sondern mit zu niedriger Inflation („Deflation“). Deflation ist gefährlich, weil der Kunde in Erwartung niedrigerer Preise sein Geld zurückhält, während die von Zentralbanken angestrebte Inflation im Zielbereich von zwei bis drei Prozent stimulierend wirkt. Nur durch die Abwertung des Yen ist Japan in US-$ gerechnet wieder hinter Deutschland an die vierte Stelle der Weltwirtschaft gerückt, für den Bürger im Alltag dagegen ist die niedrige Inflationsrate sehr angenehm.
Nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 legte Japan praktisch über Nacht die meisten seiner Atomkraftwerke still, und kompensierte verstärkt mit Gas und Kohle. Doch wurden die AKW, im Gegensatz zu Deutschland, nicht zurückgebaut und teilzerstört. Das Land setzt für die Zukunft wieder voll auf Atomkraft, bereits 14 Meiler sind zurück im Betrieb. Zielsetzung ist ein Anteil von 22% bis 2030. (faz.net/aktuell/wirtsc…)
Ein gewisser steigender Anteil Atomstrom ist im Strommix bis 2022 bereits sichtbar. Windkraft spielt praktisch keine Rolle, dafür sind Wasserkraft und Biogas traditionell stark in Japan.
Wohlstand und eine stabile Wirtschaft hängen mit bezahlbarer Energie zusammen. So kostet Strom in Japan gerade einmal die Hälfte als in Deutschland.
Auch Benzin ist ein Drittel billiger als bei uns. Die Regierung hält die Kosten bewusst flach.
(hier Preisvergleich in US-$)
Ich hoffe, dieser kleine Exkurs hat euch gefallen. Doch sind dies nur einige Eckdaten, nüchterne Zahlen. Um Asien und insbesonders Japan zu verstehen, braucht es aber unabdingbar eine Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur. Beiträge von Landeskundlern sind willkommen, unser Freund @Argonerd ist bekanntlich frisch nach Japan umgezogen und wird uns hoffentlich mehr berichten können!
@threadreaderapp unroll pls
Share this Scrolly Tale with your friends.
A Scrolly Tale is a new way to read Twitter threads with a more visually immersive experience.
Discover more beautiful Scrolly Tales like this.