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Jun 20, 2020 9 tweets 2 min read Read on X
Am heutigen #WorldRefugeeDay sind 80 Mio Menschen auf der Flucht, 40% davon Kinder. 85% aller Geflüchteten werden in sog. Entwicklungsländern aufgenommen.

Zahlen & Prozentwerte wie diese sind wichtig, genauso aber ihre Einordung und die Erklärung von Ursachen und Dynamiken.
Ein Bsp: 2015/16 fanden v.a. junge Männer den Weg nach Europa. Dieser Umstand wird von Politikern oft genutzt, um populistische Forderungen zu untermauern: Das wären keineswegs die Schutzbedürftigsten ihrer Herkunftsländer, deshalb Grenzen dicht.
Ttatsächlich waren mehr als 2/3 aller Geflüchteten, die 2015 in Ö um Asyl ansuchten, männlich. Das hat mehrere Ursachen.
1) Junge Männer waren – entgegen unserer intuitiven Vermutung – oft als erstes und am massivsten vom Bürgerkrieg betroffen waren, etwa weil sie desertierten und der Wehrpflicht entgehen wollten, oder bereits Folter in syrischen Gefängnissen erlebt hatten.
2) Vielen fehlen schlicht die finanziellen Mittel, um der ganzen Familie die Flucht zu ermöglichen. Im Schnitt zahlte ein Geflüchteter zwischen $2.000 bis $4.000 Dollar für den Weg in die EU, das entspricht einem durchschnittlichen Jahreseinkommen in Syrien vor der Krise.
Somit haben viele Familien ihr Geld zusammengelegt, viele haben sich sogar im Bekanntenkreis verschuldet oder einen Kredit aufgenommen, um zumindest einem Familienmitglied die Flucht zu ermöglichen. Das waren oft der Mann, weil:
3) Der Weg nach Europa ist nicht nur teuer, sondern auch gefährlich, weshalb häufig junge, gesunde Männer die Reise allein antraten, in der Hoffnung, bald nach Ankunft im sicheren Aufnahmeland die Ehefrau und die Kinder über sicherere Wege nachholen zu können.
Und das zeigt sich bereits in der Entwicklung der Asylantragszahlen in Ö: Während 2015 nur ein knappes Drittel aller Asylwerbenden Frauen waren, sind es mittlerweile über 40%, viele von ihnen über offizielle Familienzusammenführung.
Hintergründe wie diese sind wichtig, um Zahlen einzuordnen und zu verstehen. Oftmals liefert eine isolierte Statistik ein unvollständiges Bild, und es liegt an Journalist*in/Expert*in, ein umfassendes Verständnis von Sachverhalten zu vermitteln und nachvollziehbar zu machen.

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Dec 20, 2023
Einordnung zu #GEAS Reform:
1) Alle sind so erleichtert, dass überhaupt 1 Einigung erzielt wurde (vor der Wahl! vor Weihnachten!), dass sekundär scheint, worüber man sich geeinigt hat. Das ist fatal, weil diese Haltung bestimmt Wortmeldung d. Politk & Medienberichterstattung
2) Auf dem Papier viele Verschärfungen und stete, schleichende Aushöhlung des Asylrechts (v.a. Non-Refoulement-Prinzips durch Fiktion der Nichteinreise), was davon in der Praxis ankommen wird, steht auf einem anderen Blatt.
3) Meine Kritik ist also zweigestalt:
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Ein paar #Hintergründe zu Marokko: 🧵

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Nov 27, 2022
Ausgezeichneter Kommentar von @nuwiss_at, der alle Schieflagen des Systems Uni aufzeigt. Forschungsarbeit wird immer mehr zu einem Luxus-Hobby, das sich viele durch zusätzliche Einkünfte und/oder reiche Eltern finanzieren müssen. derstandard.at/story/20001412…
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Das Thema Flucht & Asyl ist aus meiner Sicht von 3 zentralen Paradoxien geprägt, die uns derzeit wieder tagtäglich vor Augen geführt werden.
1. Das Asylparadox: Die EU und ihre Mitgliedstaaten halten weiterhin die Genfer Konvention und damit das Recht auf Asyl hoch, unternehmen aber gleichzeitig alles dafür, dass der Zugang zu diesem Recht immer schwerer bis unmöglich wird.
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