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Jun 21, 2020 19 tweets 3 min read Read on X
Immer wieder höre ich, dass es keinen linken #Antisemitismus geben kann. Die Kritik der politischen Linken an Herrschaft, Rassismus und Diskriminierung würde das unmöglich machen. Das stimmt so leider nicht. Ein Thread. (1/19)
Wenn mir jemand sagt, dass es keinen linken Antisemitismus geben kann, weil es nicht den linken Idealen entspricht, hat diese Person das Problem schon selbst benannt: Es sind Ideale. Ein Idealtypus ist soziologisch definiert und ugs. ausgedrückt ein perfektioniertes Bild
mit Elementen aus der Wirklichkeit, das im Grunde so weit oben auf einem Podest steht, sodass es nie erreicht werden und es immer nur das Ziel sein kann, sich ihm weiter anzunähern. Wenn wir also annehmen, dass jemand durch und durch linke Positionen vertritt, ist diese Person
deswegen noch lange nicht davor gefeit, antisemitische Ressentiments zu verinnerlichen.
Um diesen Idealtyp zu erreichen, möglicherweise in der Absicht, tatsächlich jegliche Form von Diskriminierung nicht nur aus der eigenen Gedankenwelt, sondern auch
aus der Gesellschaft zu tilgen, schießen einige Menschen über das Ziel hinaus oder verbiegen sich so sehr, dass sie dann das tun, von dem sie vorgeben, es vermeiden zu wollen: Gruppen gegeneinander ausspielen.
Wie zeigt sich linker Antisemitismus in der Realität? Die politische Linke hat keinen vollends „eigenen“ Antisemitismus. Es sind Vorurteile, die sich zum Teil auch in rechten Kreisen finden,
die Ausprägungen unterscheiden sich allerdings und es sind selbstverständlich längst nicht alle innerhalb linker Gruppierungen, die diese Ansichten vertreten. An dieser Stelle 3 Beispiele möglichen linken Antisemitismus:
Beispiel Kapitalismuskritik – ein System, das viele Linke als von Rassismen und Ungerechtigkeiten zersetzt ansehen und zumindest enorm reformieren wollen. In den Diskussionen um „die Mächtigen“ und „die Eliten“ tauchen dann gerne mal Verweise auf jüdischen Lobbyismus auf oder
generell Ressentiments wie das Bild der „gierigen und mächtigen Juden“. Einige ersetzen „Jude“ dann durch „Zionist“ und wägen sich auf der sicheren Seite, was uns zum nächsten Beispiel führt.
Beispiel „israelkritisch“ – das Wort habe ich in Anführungsstriche gesetzt, weil es das einzige Land ist, bei dem dieser Neologismus anscheinend legitim ist. „Israelkritisch“ ist übrigens auch das einzige Wort, das es als solches in den Duden geschafft hat.
Bei keinem anderen Land ist das sonst der Fall.

Dabei ist selbstverständlich nicht jede Kritik am Staat Israel antisemitisch.
Kritik an staatlichen Strukturen ist richtig und wichtig – in jedem Land, das demokratische Werte aufrechterhalten möchte. Auch in Israel gibt es Probleme von Machtmissbrauch und Diskriminierung, auch inner-jüdische Gruppierungen streiten (heftig) untereinander. Aber: Wenn man
als Nicht-Jude und/oder Nicht-Israeli dem einzigen jüdischen Staat auf diesem Planeten das Existenzrecht abspricht und es verkürzt als „Antiimperialismus/-kolonialismus“ darstellen möchte – ja, dann ist das antisemitisch. Warum? Weil kein Staat jemals naturwüchsig war. Ein Staat
entsteht nicht einfach aus dem Nichts. Das mag man kritisieren, allerdings kann man sich dafür nicht *ausschließlich* den jüdischen Staat aussuchen. Dazu wird der Nahost-Konflikt oft verwendet, um Dinge einseitig und dichotom darzustellen und den Staat Israel zu boykottieren.
Beispiel Holocaust-Relativierung – Wenn es in Diskussionen in Deutschland beispielsweise um die aktuelle Flüchtlingspolitik und auch Flüchtlingslager im Ausland geht, dauert es nicht lange, bis der erste Holocaustvergleich fällt. Menschliches Leid miteinander zu vergleichen
ist nicht nur anmaßend, sondern im Falle der strukturell und systematisch ermordeten 6 Millionen Juden auch antisemitisch. Ein Umstand kann an und für sich schrecklich, moralisch verwerflich und leidvoll sein, auch ohne den Holocaust zu verwenden. Außerdem werden dadurch
Gruppen gegeneinander ausgespielt (wer leidet mehr?), auch dadurch, dass sie die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen dahinter ignorieren: Wenn man zwei schlimme Ereignisse in eine Gleichung bringt, betrifft es zudem die Überlebenden und ihre Angehörigen.
Zum Schluss soll noch einmal gesagt sein, dass es sich hierbei durchaus *nicht* um alle Menschen handelt, die sich als links bezeichnen bzw. links sind. Viele Linke setzen sich tatsächlich gegen jegliche Form von Diskriminierung, Rassismus/Antisemitismus ein. Linker Antisem.
nimmt auch nicht dieselben Formen an wie rechter Antisemitismus. Rechter Antisemitismus wird dadurch nicht (!!!) relativiert. Es ist eine andere Systematik. Aber er existiert. Und er fördert das Feindbild „des Juden“. Antisemitismus ist Antisemitismus ist Antisemitismus.

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