#Nuhr|s schriller Pogromvergleich und die schrillen Echos in den (sozialen) Medien – er habe sich auf den Holocaust bezogen, was er nicht hat, er raunte generisch – ist symptomatisch für die Infantilisierung der Debattenkultur. Die einen arbeiten mit Zuspitzungen ("Vernichtung!")
die anderen reissen sie zusätzlich aus dem Zusammenhang und verzerren sie strategisch, um sich umso empörter an ihnen abarbeiten zu können. Fleissig fabriziert man Pappkameraden und gefällt sich in der Rolle des heroischen Kämpfers. Anstatt ein ernstzunehmendes Problem
(Versuche sozialer Ächtung) ernsthaft zu diskutieren, zündet man ein aufmerksamkeitsökonomisches Feuerwerk, dessen Funkenflug eine ausgedörrte Medienlandschaft in Brand setzt, bis alle vor lauter Rauch nichts mehr sehen können und blind um sich schlagen.
Dabei unterschätzen die "Mächtigen" ihre Macht, wenn sie von drohender Vernichtung ihrer Person sprechen, während die vermeintlich Machtlosen ihre Macht unterschätzen, wenn sie sich im Internet zum Shitstorm-Schwarm formieren, der von den etablierten Medien noch verstärkt wird.
Was hätte Nuhr sagen können? Vielleicht das: "Ich erlebe #Shitstorm|s und Versuche, mich sozial zu ächten. Dabei habe ich noch Glück, denn ich bin in einer vorteilhaften Position – ich habe Fans, die mir Rückhalt geben, ich verdiene gutes Geld mit meinen Programmen, ich kann in
den Medien meine Haltung darlegen, mich rechtfertigen, man schenkt mir Gehör. Aber damit bin ich nicht repräsentativ. Was, wenn sich das Machtinstrument des Shitstorms verselbständigt und Andere trifft? Menschen, die nicht über meine mediale Präsenz und meine Ressourcen
verfügen? Wollen wir wirklich diese Art der Auseinandersetzung kultivieren? Hier muss ich mich allerdings an die eigene Nase fassen – was in meinen #Satire-Programmen legitim ist, eben die schrille Überspitzung, ist in Interviews und Meinungsbeiträgen nicht angebracht. Ich sollte
also mit gutem Beispiel vorangehen und die aufmerksamkeitsökonomisch-satirischen Zuspitzungen auf die Comedybühne beschränken. Wenn Menschen nicht mehr zwischen ihren verschiedenen sozialen Rollen differenzieren, wird es verlässlich brisant. Grundsätzlich sollten alle alles daran
setzen, dass wir nicht in eine Situation der kulturkämpferischen Verrohung hineinschlittern. Denn wir wissen aus der historischen Gewaltforschung, dass Verbalgewalt und psychologische Gewalt der physischen Gewalt vorausgehen, dass sie je nach Situation einen Dominoeffekt in Gang
setzen können. Und auch wenn vermeintlich "Mächtige" Ziel des Kulturkampfs sind – am Ende werden nicht sie unter ihm leiden, sondern die weniger Mächtigen; jene, die immer schon, in allen Kämpfen und Kriegen, als Kollateralschaden die leeren Seiten der Geschichtsbücher bilden."
@dieternuhr hätte also betonen können, dass auf die Person zielende Shitstorms, Cybermobbing und sonstige Formen sozialer Ächtung die Verletzlichen und Schutzlosen am stärksten treffen – Menschen, von denen wir in den Medien oft gar nichts mitbekommen, oder die sich gar nicht
trauen, sich öffentlich zu Wort zu melden, wenn sie die sozialdarwinistische Kulturtechnik des Shitstorms aus der Distanz mitverfolgen. Nuhr hätte klarstellen können, dass es NICHT um ihn selbst geht, sondern um das fatale Beispiel, das soziale Ächtung als Prima Ratio abgibt.
Viele – aber bei weitem nicht alle! – Gegner Nuhrs wiederum tun das, was sie #DieterNuhr vorwerfen – sie entkontextualisieren Aussagen, sie unterstellen, überspitzen, projizieren, karikieren, diffamieren (Corona-Leugner! Wissenschaftsfeind! Klimaleugner!). Was den oft beklagten
Beifall von der falschen Seite und Kontaktschuld betrifft, hat es Ayishat Akanbi (ff!) auf den Punkt gebracht:

.

Kurz gesagt: Die Herausforderung besteht nicht darin, in einem grausamen Spiel zu bestehen, sondern aus einem grausamen Spiel auszusteigen.
Ein Differenzierungsversuch von @Msanyal und mir zum Thema #CancelCulture: ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/20…
P.S. Shitstorm ≠ Critiquestorm

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Joerg Scheller | @joergscheller@metalhead.club

Joerg Scheller | @joergscheller@metalhead.club Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @joergscheller1

Apr 28, 2023
Kleopatra war weder weiss noch schwarz; die Kategorien im heutigen Sinne gab es zu ihrer Zeit nicht. Interessant in jedem Fall, dass Hautfarbe entgegen aller sozialkonstruktivistischen Verlautbarungen nun doch wieder biologisch-ethnisch verstanden wird.
nzz.ch/feuilleton/wie…
Wer sich zuvor nicht darüber ereifert hat, dass Kleopatra von 'Weissen' (wo aber beginnt "weiss"? Wo endet "weiss"?) verkörpert wurde, möge nun schön die Klappe halten. Wer schon zuvor den Rückfall in affirmative Hautfarbentaxonomien kritisiert hat, möge gerne noch lauter werden.
Ein paar relevante Fakten jenseits der Re-Rassifizierung: "Die Repräsentationsformen am ptolemäischen Hof waren durch und durch orientalisch geprägt. […] Auch in ihrem persönlichen Habitus war die Königin mehr Afrikanerin als Griechin. Sie sprach fliessend Griechisch, wie es in
Read 9 tweets
Apr 28, 2023
1. Bobo hat nie irreführende Hoffnungen geweckt.
2. Bobo hat keine illegalen Drohnenkriege geführt.
3. Bobo hat die besseren Kulissen.
4. Bobo ist billiger. Image
"Organisiert wird [Obamas Auftritt] von einem Unternehmen, das sich online als Plattform 'für die Alphas und Omegas, die Erleuchteten, die den Geist nähren und transformativen Wandel vorantreiben' anpreist. Moderiert wird der Abend von einem Mann, dem einst Aufforderung zu
Kannibalismus vorgeworfen wurde. […] Dass [aber] vieles über den Anlass im Dunkeln bleibt, hat einen einfachen Grund: Die Administration von Obama soll allen Involvierten einen Maulkorb auferlegt haben.
Weder der Veranstalter, der Direktor des Hallenstadions noch beteiligte
Read 4 tweets
Jan 28, 2023
Beispiel für Framing und inkonsistente Identitätspolitik: Töten fünf schwarze Polizisten einen Schwarzen, wird die Hautfarbe der mutmaßlichen Täter erst ganz am Ende genannt, die des Opfers schon in der Überschrift. Ist der Täter weiß, werden beide Hautfarben zu Beginn genannt.
Wer reaktionärer Schwurbelei keinen Vorschub leisten will, verzichtet auf tendenziöse Sprachspiele und berichtet über Realitäten auf Basis klar nachvollziehbarer, konsequent angewendeter Kriterien, ohne Angst vor "Beifall von der falschen Seite". Alles andere ist kontraproduktiv
und begünstigt Geraune - aha, der böse Staatsfunk will uns manipulieren!
Read 4 tweets
Jan 28, 2023
"Vielsagend ist, dass die Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik 1949 auf eine Initiative eines rechtsextremen Politikers zurückging, der verhindern wollte, dass Nazis von den Siegermächten getötet würden."

nzz.ch/feuilleton/phi…
"Was der Steinbruch von Auschwitz nicht vermocht hatte oder der Todesmarsch, das sollte den Richtern mit NSDAP-Vergangenheit gelingen: die Zermürbung, die Vernichtung des Philipp Auerbach."
"'Schuldig eines Verbrechens des Versuchs zu einem Verbrechen der Erpressung . . .' So begann der Richter seinen verworrenen, fast sinnbefreiten Urteilsspruch, dem kein Mensch im Saal folgen konnte. An dessen Ende der Angeklagte aber zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und
Read 4 tweets
Nov 21, 2022
Interessant, dass der entgrenzte Begriff "Phobie" schon in den 1930er Jahren gebraucht wurde, um von der eigenen Haltung abweichende Personen zu diskreditieren. So schreibt die verdienstvolle Emma Goldman 1931 in völliger Verkennung der Lage von "Germanophobie": "As for those
native liberals and socialists who were serving as war drummers for the Government, I felt only disgust for the Russells, Bensons, Simonses, Ghents, Stokeses, Greels, and Gomperses. They had never been anything but political trimmers; they were merely fulfilling their destiny.
It was more difficult to understand the Germanophobia of men like George D. Herron, English Walling, Arthur Bullard, and Louis F. Post. Someone had sent me Herron’s book The Need of Crushing Germany. Never had I read a more bloodthirsty and vicious misrepresentation of a people."
Read 4 tweets
Aug 19, 2022
Zur alle Jahre verlässlich wie das Osterfest und die Abgabe der Steuererklärung wiederkehrenden, immer wieder von Null beginnenden Debatte über #KulturelleAneignung hier ein paar längere Passagen aus meinem Buch "Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft."
„In @Msanyal's Roman Identitti steht der bemerkenswerte Satz: „Obwohl Barbara blonder und wenn überhaupt möglich eher hellhäutiger war als Lotte, wäre Nivedita niemals auf die Idee gekommen, sie weiß zu nennen.“ Ice-T bemerkte einmal in einem Fernsehinterview, seitdem er viel
Geld habe, sei er nicht mehr wirklich schwarz, seine Hautfarbe sei nun eher grün – womöglich eine Anspielung auf die Farbe der Dollar Bills. Man könnte sich in diesen verwirrenden Zusammenhängen auch daran erinnern, dass italienische Einwanderer in den USA um 1900 von Weißen
Read 17 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Don't want to be a Premium member but still want to support us?

Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us!

:(