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Sep 27, 2020 105 tweets 35 min read Read on X
1.Eine Masterarbeit in 100 Tweets - Lass mich mit #Aufklärung in Ruhe, Bruder aka das eigene Leben als Gestaltungsaufgabe. #theater #publikum #partizipation
2.Ich durfte in den letzten Jahren eine wunderbare Zeit mit @tomasaxolotl1 , @croemer, @annaverakelle, Leoni, Anton und Lena unter der fürsorglichen Obhut von @fkirschner , @JulianJungel , Janne Nora Kummer und @openPlusea verbringen.
3. Diese Zeit, geht jetzt, wegen Corona, ohne großes Tamtam zu Ende. Leute werden einfach fertig, wir sehen uns nicht mehr als Studien-Gäng und die @hfsernstbusch hat schon Nachfolger*innen auserkoren. Als Teil dieser letzten großen Rutsche dürfen wir eine Masterarbeit schreiben.
4. Der Studiengang #spielundobjekt legt Wert auf Intertextualität, Hyperlinks, Ausstellung von Versuchen und Fehlversuchen und sowie Selbsterfahrung. Wie soll das alles gehen, wenn ich etwas auf Papier abgebe? Ich glaube, gar nicht.
5.Deswegen hier: Eine Masterarbeit in 100 Tweets. Dieser Feed ist tl;dr,🙄 und auf jeden Fall zu lang für diese Plattform. Aber zum Glück ist das im Internet alles:
6. Why Twitter als Plattform? Es ist ephemer, öffentlich, nicht so komplett durchdacht und versendet sich schnell- also das genaue Gegenteil davon, wie es Abschlussarbeiten so sein wollen. Das ist fantastisch und just what I want.
7. Jetzt aber geht es um mein Verständnis des Publikums in performativen Ereignissen mit Publikumsbeteiligung. Warum sagt er nicht partizipativ? Kommt, gleich! Ich fang jetzt an und freu mich wirklich über jede Antwort.
8.Am Anfang kommt sehr viel Theatertheorie und Auseinandersetzung damit. Wer wissen will, wieso ich glaube, dass das alles wichtig ist und so, muss den ganzen Thread lesen. Ab so Tweet 90 geht es dann nochmal spezifischer um meine Position.
9.Eine Vorüberlegung, warum man sich eigentlich so viel Meta-Gedanken über die eigene Kunstform machen sollte: Wir erleben gerade eine massive Repräsentationskrise. Gesellschaft wird diverser, vielfältiger, besser weil gleichberechtigter und Institutionen kommen da nicht mit.
10. Theater auch nicht. Little surprise. Dieser Repräsentationskrise kann man was entgegensetzen, künstlerisch. Dafür muss man sein Publikum kennen und sein Wunschpublikum kennen. Wenn ich weiß, wer das ist, was die Differenz ist, zu dem, wen ich gern hätte kann ich damit umgehen
11.Beim Bewerbungsverfahren für den MA #spielundobjekt fiel zum gerade laufenden @PAFBerlin der Satz „Da stehen Performende auf der Bühne und im Publikum sitzen auch nur Performende. Für wen machen wir das das eigentlich?“- und die Frage sollte man beantworten können.
12. Ich gehe, gerade auch in Berlin, doch regelmäßig in Theater. Das letzte Mal, dass ich was gesehen von dem ich geflasht war, war @antahelene's Kränkungen der Menschheit im @HAU. Das letzte Mal, dass ich in nem Stadttheater geflasht war, war Räuberinnen in den @Kammerspielen.
13.Nicht gerade Geheimtipps. Sure. Räuberinnen & Kränkungen waren aber deswegen super, weil sie lustvoll eine moderne Gesellschaft diskutieren und es schaffen, einen Entwurf zu zeigen, der Bock auf Welt macht.
14.Unautoritär, mit Experimentierfreude und als Utopie. Und die keinen theoretischen Überbau brauchen, um Spaß zu machen. Das eigene Leben als Gestaltungsaufgabe, trotz Scheißsystem- und das auch darstellen.
15.Das würde ich auch auch gern können und ich glaube, sich Gedanken übers Publikum im Theater zu machen, ist ein erster Schritt dahin. Ich hätte auf jeden Fall Bock, darüber in Austausch zu gehen.
16.Wie das mit dem Digitalen zusammen hängt, hat @KatjaGrawinkelClaasen in ihrem Beitrag für @nachtkritik bereits klar gemacht. Daher geht es hier Publikum für performative Ereignisse. Keine Unterscheidung, nirgends! nachtkritik.de/index.php?opti…
17.Auf eine Frage nach Erweiterung des Publikums durch Online-Theaterangebote sagt Matthias Lilienthal im #Theatertreffen-Gespräch zu Technik und Ästhetik im Mai 2020 (ab ca. Minute 44), er würde sich mehr investigative Impulse des Theaters wünschen. berlinerfestspiele.de/de/berliner-fe…
18.Lilienthal hat Angst, dass die Theaterszene nach der Corona-Krise verhärtet in die Pre-Corona-Zeit zurückflutscht. Well, good foresight, i'd say. Während des Lockdowns wurde experimentiert- was sogar zu einem @Nestroy-Spezialpreis führte. nestroypreis.at/show_content2.…
19.Doch kaum ging es, wurde so schnell es ging zurück geschraubt- im wahrsten Sinne des Wortes. Kaum waren die letzten Worte der neuen Senatsverordnung gesprochen, drehten sich bspw. die Akkuschrauber des @blnensemble.
20.Auch Häuser, die während dem Lockdown alles mögliche gestreamt haben wie die @schaubuehne oder das @Zschauspielhaus, das unter @CRueping auch mit digitaler Handlungsmacht experimentiert hat, sind back at usual. Soweit meine Außenperspektive - please correct me if i am wrong.
21.Die Rolle des Publikums ist wieder die, die es war pre-corona war: Live vor Ort. Ready to experience the hell out of the Kopräsenz. Akteure und Zuschauende befinden sich zur gleichen Zeit am selben Ort und alle Beteiligten nehmen das performative Ereignis als Aufführung wahr.
22.Das Publikum soll wieder das erleben, von dem sie wissen, dass es das im Theater zu erleben gibt: Die Transformation des Selbst durch das Beobachten des anderen. Sag nicht ich, sagt Fischer-Lichte. images.buch.de/images-adb/3a/…
23.Damit meine ich nicht, dass Publikum als Sitzfleisch angesehen wird, dass sich vor, während und nach der Vorstellung einen reinzwiebelt. Rezeption ist auch handeln. Sagen viele, Alan S. Brown hats untersucht. researchgate.net/publication/26…
24.Mit jeder Sekunde, die man sich egal was anguckt, geht ein bewusster Rezeptionsprozess einher- im Theater, wie sonst wo. Man nimmt also aktiv an etwas teil, in der man keine handelnde Rolle hat.
25.Eigenes Handeln wird, in dieser Anordnung, eher als Störung wahrgenommen denn als Bereicherung. Eigene Handlungen haben vorrangig negative Konsequenzen auf den Fortgang des performativen Ereignisses und werden von anderen als Störung wahrgenommen.
25.Eigenes Handeln wird, in dieser Anordnung, eher als Störung wahrgenommen denn als Bereicherung. Eigene Handlungen haben vorrangig negative Konsequenzen auf den Fortgang des performativen Ereignisses und werden von anderen als Störung wahrgenommen.
26.Also: Publikum ist aufnahmefähig, befähigt zu freien Entscheidungen und Rezeption ist ein aktiver Prozess, eigene Handlungsmacht hat das Publikum aber nicht. So far, so obvious.
27.Ich persönlich möchte dem Publikum eine aktivere Rolle zukommen lassen. Das eigene Leben ist eine Gestaltungsaufgabe, die man verdammt nochmal anzunehmen hat.
28.Damit zurück zu Lilienthal. Die investigativen Impulse, von denen er spricht, zielen klar auf Weitergabe unbekannter Fakten ans Publikum, also letztlich einer Art Wissensvermittlung. Ein Beispiel: @investigativeth unter der Leitung von @ChristianeMudra.
29. Das Publikum wird hier, durch Vermittlung und Verarbeitung teils unbekannter Fakten aus der Nachkriegszeit daran erinnert, dass 1945 viele Personen ihre Machtposition auch im neuen politischen System beibehalten haben.
30.Das Publikum hat, dank einer App (apps.apple.com/de/app/kein-kl… von @play_toto , immer wieder Punkte, in denen es mehr über bestimmte Umstände und Situationen erfahren kann- und selbst darüber bestimmen kann.
31.Damit wird deutlich, wo der Unterschied zwischen aktiver Rezeption und Interaktion liegt: Es geht also um die Erfahrung von Handlungsmacht und was das eigene Handeln bewirken kann.
32.Oder wir nehmen die Definition von Silke Feldhoff- die in ihrer Doktorarbeit vor 11 Jahren auch sonst schon sehr schlaue Sachen schrieb. opus4.kobv.de/opus4-udk/fron…
33.Als Theatermachenden bedeutet das für mich: Ich gehe davon aus, dass das Publikum selbst entscheidet und denkt und nicht erzogen werden muss- weder zur Mündigkeit noch anderswie. Das hat Brecht echt lang genug gemacht.
34.Damit mache ich ausschließlich Angebote- für verschiedene Menschen verschiedene Modi anbieten - und das mit einer sinnlichen Erfahrung verknüpft, die keinen Modus privilegiert. Oder simpler: YKINMKBYKIOK. urbandictionary.com/define.php?ter…
35.Gleichzeitig ist das bei einer aktiven Selbsterfahrung, dass die interpretierende Rezeption in den Hintergrund treten kann und dem Erleben selbst mehr Gewicht verliehen wird- und damit mehr Raum für Sinnliches geschaffen wird.
36.Damit kann man auch der Überhöhung von intellektueller Rezeption gegenüber einer ästhetisch-sinnlichen Erfahrungen, die Empfindungen in den Fokus rückt. Was super finden, ganz ohne Hintergedanken!
37.Also, das Intellekt eben bisschen mehr Eindruck hinterlässt, als ein lautes: SCHÖN WARS!- hab ich geklaut. Von Susan Sontag. Die sagt, dass es eben nicht immer darum geht, schlaue Dinge aus irgendwas rauszulesen. shifter-magazine.com/wp-content/upl…
38.Das Tolle daran ist, dass Sontag der Theoretisierung von Kunst, deren Mehrwert bspw. hier von Marcel Finke hervorragend beschrieben wird, etwas entgegensetzt.

wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-…
39.Bice Curiger beschreibt das in ihrem Vortrag zum diesjährigen Martin Roth Symposium hervorragend: Wirkung und Intention gehen auseinander, das Werk wird zur Überraschung, für Publikum und Erschaffende.
40.Das Thema kehrt immer wieder: Das Dritte entstehen lassen, das Gemeinsame. Rancière beschreibt das in „Der emanzipierte Zuschauer“ im Bezug auf traditionelle Theaterformen folgendermaßen.
41.Eine emanzipierte Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Erzähler*innen und Übersetzer*innen- oder auch Publikum und Performenden, was für ne geile Gemeinschaft. Komm Schwester, lass machen!
42.Damit setzt sie sich auch von den vier Kategorien ab, die @Max_Glauner in seinem großartigen und stichhaltigen Artikel ausmacht. Glauner bezieht sich allerdings vorrangig auf die bildende Kunst. maxglauner.com/2016/05/28/get…
43.Es passt deshalb nicht in Glauners Kategorien, weil sich der Fokus des Schaffens auf den Fokus des gemeinsamen Erschaffens durchs Erleben verschiebt. Das mag wie ein kleiner Unterschied wirken, ist es aber nicht.
44. Ich bin gerade dabei einen Augmented Reality-Walk für das Theater der Dinge Festival an der @Schaubude zu machen. Ein Teil davon ist die Errichtung einer sozialen Skulptur durch Audionachrichten, die allein durch das Publikum entsteht.
45.Das unterscheidet sich damit, auch in der Handlungsmacht, bspw. von den Anordnungen, die @prinzip_gonzo erschaffen oder Spielen, wie @frau-_hue sie macht. Trotzdem gilt das alles als partizipatives Theater. Wobei die Begrifflichkeit allein... puh. Mach ich mal n Bogen drum.
46.Ich glaube, das geeignetere Analyseinstrument ist die Frage, bei wem die Handlungsmacht liegt. Welcher Stempel da drauf klebt, ist dann egal. Die Begrifflichkeiten partizipativ, interaktiv und immersiv sind dann irgendwie egal.
47.Wer sich dafür interessiert und sich da gern entscheiden möchte: Claire Bishop schreibt in Artifical Hells das.
48.@taniaelk das. Beides ziemlich schlau. Für mich aber nachrangig. intermsofperformance.site/keywords/parti…
49.Was diese aber performativen Ereignisse aber verbindet, neben der Handlungsmacht für das Publikum, ist die Idee des World building. Ein Begriff, der in den letzten Jahren enorm populär war, gern in Kombination mit dem Term „Teatro Mundi“.
50.In einem Beitrag über Max Beckmann sprach bspw. @tobfs darüber. World Building zur eigenen Erfahrbarkeit. thomas-oberender.de/578_deutsch/3_…
51.Dieses world building ermöglicht die Herstellung neuer Sinnzusammenhänge. Da, Meinrenken / da Costa e Silva! Das lass ich mir auf den Steiß tätowieren!
wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-…
52.Aber mit dieser geilen neuen Gemeinschaft nach @jacquesranciere gehen auch neue Zwänge einher. Diese Gemeinschaft zwingt, die Arbeit als Person, die performative Ereignisse erschafft, zu überdenken.
53.Wie positioniere ich mich zum Verhältnis zu Repräsentation? Was bilde ich ab? Und was ist meine Verantwortung für das Publikum? Welche Machtverhältnisse bilde ich ab, welche lasse ich außen vor? Und: Wie ist mein Machtverhältnis zum Publikum? Nur Fragen. Keine Antwort.
54.Insgesamt geht es also um den Umgang mit einem mündigen Publikum. Jetzt kommen hier doch mal die Elefanten im Raum: Kant, Arendt, Adorno und Habermas.
55.Ha, natürlich nicht. Stattdessen kurz: Leute können ihre Entscheidungen selbst treffen. Ham wa gelernt. Manche nicht, aber die meisten. Kriegen wir hin.
56.Kurzer anekdotischer Einschub: Vor einigen Monaten war ich im Brecht-Haus bei einer Veranstaltung zu Interventionen. Inhaltlich super- und auch die anschließende Diskussion war sehr einprägsam.
lfbrecht.de/event/die-klei…
57.Ich hatte das Gefühl, in einem Lehrer*innenzimmer gelandet zu sein- nicht wegen @AramBartholl oder @co_puschke , sondern weil aus dem Publikum vorrangig Anmerkungen kamen, die forderten, dass das Publikum doch erzogen werden müsse.
58.Und dabei kam dieser seltsame Geist zum Vorschein, dass erwachsene Menschen Erziehung und Argumente brauchen, dann entscheiden sie sich alle richtig- und das sei auch Aufgabe der Kunst.
59.Genau diesem Verständnis will ich widersprechen- es darf und geht nicht um Vermittlung gehen, sondern um die Erfahrbarkeit. Von Handlungsalternativen mit weniger Verbindlichkeit als im Alltag. Ein Spielplatz für alternatives Verhalten in einer zwanghaften Gesellschaft.
60.Den schlauesten Satz hab ich natürlich auch wieder geklaut. Signa Köstler sagt das über das Verständnis ihrer eigenen Performances. Nun muss man nicht so radikal sein wie Signa, um das Prinzip zu verstehen. schirn.de/magazin/interv…
61.Ausgehend von einem aktiv Entscheidungen treffenden, bewusst handelndem Publikum, dass keinerlei Erziehung zur Mündigkeit mehr bedarf, ist alles möglich. Wenn sich Publikumsmitglieder gern zwei Stunden in eine Ecke setzen möchten: gönnt euch!
62. Nur: Es muss Consent geben. Eigentlich sind die Grundregeln von Stücken, die aktives Handeln des Publikums, ob mit oder ohne digitalen Medien, ähnlich zu allgemeinen Consent-Regeln. Zustimmung muss klar, andauernd, bewusst und freiwillig sein. healthline.com/health/guide-t…
63.Nur, was heißt das im künstlerischen Kontext? Wird mit dem Ticketkauf Consent vorausgesetzt? Ist, wer sich entzieht oder nicht mitmacht, kunstfeindlich? Wer schläft verliert? Ist mitmachen Publikumspflicht?
64.Natürlich nicht. Die Modi, von denen ich sprach, sind Möglichkeitsraum für Verhaltensweisen, mit denen experimentiert werden kann. Die Stärke des performativen Ereignisse misst sich am Umgang mit Störungen.
65.Wichtig ist ein gemeinsames Regelwerk. @fkirschner würde wohl auch von geteilter Rollensicherheit sprechen. Sprich: Beide Seiten wissen, was die für sie vorgesehenen Rollen sind und meinen zumindest verstanden zu haben, welche Verhaltenserwartungen daraus entstehen.
66.Ich kann mich noch an eine Aufführung von Signas „Das Halbe Leid“ am @schauspielHHaus erinnern, bei der ich als Performer mitgemacht habe. Es war eine zwölfstündige Overnight-Performance in einem roughen Setting.
67.Ein Zuschauer war offensichtlich als Begleitung mitgekommen und von der Situation nach einigen Stunden übersättigt, wollte aber auch nicht vorzeitig gehen und fing an ein mitgebrachtes Hörspiel zu hören. Als Performer ein Albtraum- und auch ein Problem im Rollenverständnis.
68. Das genannte Beispiel ist dann genau der Grenzfall- das gemeinsam vereinbarte Regelset wird in so fern außer Kraft gesetzt, als dass sich eine Person außerhalb des Rollenverhältnisses bewegt.
69.Mit dieser Erkenntnis nochmal zurück geguckt auf Fischer-Lichtes Beschreibung von Abramovics Performance.
70.Das Regelwerk bei ihrer Performance sagt: Alles kann passieren. Was passiert, wie weit es geht und was mit mir als performenden Körper passiert, ist unsere gemeinsame Verantwortung.
71.In dieser gemeinsamen Verantwortung entsteht also bereits das dritte, von dem Rancière spricht. Den Akzent hab ich jetzt das vierte Mal nachgeguckt.
72.Nur: Wenn das Publikum dann wirklich so mitverantwortlich ist für das dritte, das entsteht, wie verhält es sich dann mit Urheberschaft? Mit Bezahlung? Mit Eintritt? Mit Verantwortlichkeit? Wieso sollte so ein Besuch für das Publikum nicht auch Arbeit sein?
73. Die heroische Befreiung von Zwängen des Publikums könnte eben auch als Errichtung eines Geschäftsmodells gelesen werden. Claire Bishop deutet das in Artifical Hells auch kurz an.
74.Sind Partizipationsmodelle dann nicht irgendwie auch unpaid labour des Publikums? Wenn, wie bei @RiminiProtokoll "win win", das Publikum sich selbst gegenübersteht- kann man da nicht auch von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen? rimini-protokoll.de/website/en/pro…
75.Der Widerspruch zwischen dem Dritten und dem neu Erschaffenen lässt sich nicht ganz aufheben, doch gibt es einen Unterschied in der Genese: Das Publikum bekommt den Spielplatz angeboten und kann sich dort verwirklichen, die Schaffenden bauen ihn.
76.Ich würde daher so lange nicht von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen, so lange der Publikumsanspruch der Transformationserwartung erfüllt wird, von dem Fischer-Lichte sprach.
77. Das Argument entspringt einer Idee, die Rudolf Frieling in einem Nebensatz formuliert hat. Der Publikumsanspruch ist die Erfahrbarkeit von Transformation. intermsofperformance.site/keywords/parti…
78.Diese Transformationserfahrung ist die Belohnung. Ja, ne Bourdieu, Mehrung kulturellen Kapitals, logo. Experience economy at its best- und eigentlich stellen sich bei mir alle Nackenhaare auf, Teil dessen zu sein.
79. Eigentlich will ich dem eine große Langeweile entgegensetzen, fast wie Brecht, ne. Genau, der von vor 20 Tweets.
80.Aber gleichzeitig macht die Abgabe von Handlungs- und Gestaltungsmacht, die Möglichkeit des eigenen Kontrollverlusts, die Unvorhersehbarkeit und die Co-Autorenschaft beim Publikum eben auch wahnsinnig viel Spaß.
81.Warum aber nicht noch radikaler sein und alles freigeben? Power to people? Power to the publikum? Mehr Experiment wagen? Bürgerbühne Fragezeichen Ausrufezeichen
82.Wieso soll das Publikum nicht die Macht haben, das komplette Experiment zum scheitern zu bringen? Wäre das nicht der ultimative Ausdruck von Handlungsmacht? Spoiler Alert: Nein. Scheitern ist nicht schön, scheitern ist scheiße.
83.Elke Bippus, Professorin @zhdk benennt, warum auch Experimente im künstlerischen Bereich ihre Grenzen haben müssen, in ihrem Beitrag zum Sammelband „Experimentieren“ bei @transcript so. transcript-verlag.de/media/pdf/2e/c…
84.Es geht um die Wissensgenese durch ästhetische Erfahrungen. Ich versuch den Blick auf performative Ereignisse, die vom Publikum gestaltet werden, als Experimente zu sehen, aus denen Erfahrungswissen – oder eben die Transformation des Publikums-entsteht.
85.Damit geht es ein bisschen um künstlerische Forschung, ein bisschen aber auch nicht- weil die Vorstellung von künstlerischer Forschung, die ich habe, nicht allein durch die Kunstschaffenden, sondern auch durch das Publikum betrieben wird.
86.Das widerspricht zwar dem Verständnis von künstlerischer Forschung als Wissengenese etwas (@art_res_b, correct me if i am wrong) aber hey.
87.Ich verstehe meine Rolle also in der Konstruktion des Erbauens des Experimentierfeldes, in dem das Publikum dann Erfahrungswissen generieren kann.
88.Ich komme jetzt dazu, was das praktisch bedeutet. Der Steigbügel: Eine uralte Diskussion um Folterszenen in GTA V und das eigene Verhalten. Wer die Diskussion nicht kennt: @LeFloid holt uns nochmal alle ab, wie das damals so war.
89.Und auch, wenn die Moralkeule da aber ganz schön geschwungen wird- die Spieler*innen nehmen einen distanzierenden Standpunkt einen zu ihrem eigenen, fiktiven Handeln, zu dem das Spiel sie zwingt- und das trotz der niedrigeren Verbindlichkeit.
90.An Hand des Computerspiels „Deus EX“ beschreibt auch @miguelsicart den Wandel der Ethik von Computerspielen und die Anforderungen an das aktive Handeln von Spielenden. pdfs.semanticscholar.org/5709/9a74690a2…
91.Das Fokussieren auf das Handeln macht den Unterschied- und diese Entscheidungen werden trotz niedriger Verbindlichkeit noch als verbindlich genug wahrgenommen, um einen Transformationsprozess bei den Spielenden herbeizuführen bzw. sogar zu erzwingen.
92.Ich fasse zusammen: Das Bild des Publikums, mit dem ich arbeiten möchte und von dem ich ausgehe, ist a) aufnahmebereit, b) handlungsmächtig c) sich den Rollenerwartungen und deren Grenzen dessen bewusst und d) ist spielfreudig.
93.Für mich bedeutet das: Ich versuche, a) dem Publikum eine Welt zu bauen, deren b) Grenzen erkennbar sind, c) ihre Handlungen Konsequenzen, aber c) weniger Verbindlichkeit haben, und d) aus der sie jederzeit widerstandslos aussteigen können.
94.Konkret heißt das, ich überlege mir, welche Aufgaben das Publikum erfüllen soll, welche nicht und wie ich mit der Negation der Aufgabenübertragung umgehen will.
95. Gerade in Ereignissen, die man allein erfährt und die die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst zum Ziel haben, ist das wichtig. Das Surrounding in dem sie sich bewegen, die möglichen inhaltlichen Ausprägungen, die Themen, setze ich als Machender. Immer.
96. Publikumsbeteiligung heißt nicht die Freiheit von Hierarchie und Verantwortung von Künstler*innenseite. Durch die Möglichkeit zum Ausstieg sehe ich auch die Notwendigkeit von Trigger- oder Inhaltswarnungen nicht- eben weil es freie Entscheidungen gibt, zu partizipieren.
97.Eben auch hier: Das eigene Leben als Gestaltungsaufgabe heißt auch, zu wissen, wie weit ich in den Ozean, der mir gegeben ist, rausschwimmen kann. Diese Entscheidung kann nicht abgenommen werden.
98.Ich habe auch noch sehr laut Julia Grosse von @ContemporaryAnd im Ohr, die sagt, dass Gesellschaft viel diverser ist, als die meisten Leute, insbesondere der Mehrheitsgesellschaft, zu glauben scheinen.
99.Es ist unmöglich, alle gesellschaftlichen Perspektiven abzubilden oder Repräsentationen davon zu schaffen. Daher: Freiraum schaffen. Lücken lassen. Und Handlungsmacht abgeben.
100.Das mag jetzt wie der Easy Way Out aus der erwähnten Repräsentationskrise wirken. Einfach sagen: Represent yourself. So einfach ist es natürlich nicht, Erfahrungshorizonte sind unterschiedlich und zu sagen „Repräsentiert euch doch selbst, ich kanns doch auch.“ ist zu bequem.
101. Ha, jetzt werden es sogar mehr als 100 Tweets. Sind aber gleich durch. Versprochen.
102.In Verbindung mit dem Nachdenken über das eigene Publikum und vor allem der Definition davon, für wen man all das eigentlich macht, kann es ein Bestandteil sein, der zu mehr Wiedererkennung und Repräsentation beiträgt.
102.So, bis hierhin. Jetzt bin ich müde. Ist ja auch Sonntag.

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