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Oct 28, 2020 25 tweets 7 min read Read on X
Am kommenden Sonntag könnte es in Wiesbaden dank der @fdp eine Art BREXIT der Verkehrsplanung geben, wenn über den Bau einer Straßenbahn abgestimmt wird.

Eigentlich wollte ich euch diese Lokalposse ersparen, aber jetzt wird sogar überregional darüber berichtet, daher ein Thread:
Warum der Vergleich mit dem Brexit? Weil die Sache objektiv betrachtet recht klar ist. Alle anderen Städte dieser Größe haben längst ein schienengebundenes Verkehrsmittel, einzige Ausnahmen sind Münster und Mönchengladbach. (In Münster wird eben viel Rad gefahren).
In Wiesbaden werden für den ÖPNV hingegen nur Busse eingesetzt, was dazu führt, das hier unfassbare 48,5 Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens auf PKW entfallen. Und dementsprechend sieht es hier aus: Früher Weltkurstadt, heute eher ein großer Parkplatz mit Häusern dazwischen.
Wenn Touristen Fotos von den historischen Häuserzeilen machen, sollte das unterste Stockwerk lieber nicht auf dem Foto sein oder wie Prof. Knie bei einer der Veranstaltungen sagte: "Schöne Stadt haben sie da, man darf den Blick nur nicht unter das erste Stockwerk richten."
Diese Fixierung aufs Auto liegt auch daran, dass die Alternativen ziemlich unattraktiv sind: Das Radwegenetz wird gerade erst ausgebaut und der Betreiber des Busnetzes vermeldet jährlich neue Rekordzahlen. Entsprechend überfüllt, unpünktlich und unpraktisch sind die Busse.
Das System ist derartig am Anschlag, dass man nicht einfach noch mehr Busse reinkippen kann: Über zentrale Innenstadtzubringer fahren die heute schon im Minutentakt, so dass sie sich an den Haltestellen gegenseitig blockieren und die Verspätung noch mal zunimmt.
Der Vorteil einer Bahn ist recht simpel: Es passen viel mehr Leute rein. Selbst ein Doppelgelenkbus fasst realistischerweise nicht mehr als 100 Personen, eine Bahn in Doppeltraktion 400 Personen. Zudem fährt sie auf einem eigenen Gleiskörper, kommt also schneller durch den Stau.
Sie ist in der Regel leiser als Busse, fährt immer elektrisch, die Waggons halten im Schnitt 30 Jahre während Busse nach 10 Jahren ausgemustert werden. Laut Befragungen sind sie auch einfach komfortabler, besonders für Eltern mit Kinderwägen, Menschen mit Gehhilfen usw.
Wenig überraschend sprechen sich so ziemlich alle Expert:innen auf dem Gebiet ab einer bestimmten Stadtgröße für schienengebundenen Verkehr aus. Seit 2000 haben 114 Städte wieder Straßenbahnen eingeführt, das Preis-Leistungs-Verhältnis ist wohl mit die größte Stärke.
Warum gibt es im reichen Wiesbaden also keine? Weil die FDP das seit den 90ern erfolgreich ausbremst. Zuletzt hat der hessische Wirtschaftsminister von der FDP sie gestoppt, was die Liberalen nicht daran hindert, jetzt plötzlich das Thema Mitbestimmung für sich zu entdecken.
Deswegen gibt es jetzt einen Bürgerentscheid. Finden viele toll, weil voll demokratisch und so, aber näher betrachtet ist das problematisch:
Der ÖPNV einer Großstadt hat Auswirkungen auf viel mehr Menschen als nur seine Einwohner:innen, so sind viele Vororte davon sehr abhängig.
Junge Menschen und Menschen ohne deutschen Pass dürfen nicht abstimmen, außer sie sind EU-Bürger:innen. Zudem sind ÖPNV-Projekte sehr komplex. Ich habe selbst am Entstehungsprozess des Mobilitätsleitbilds der Stadt teilgenommen und wow, was hat mir manchmal der Kopf geraucht.
Man kann dieses Thema eigentlich nicht vernünftig bewerten ohne eine Menge Zeit reinzustecken und abzuwägen, was die Alternativen können und kosten.

Als wenn das nicht schwierig genug wäre, fällt die @fdp nun unangenehm durch eine Desinformationskampagne auf.
Beispiel 1

Der Bau der Trasse kostet ca. 500 bis 600 Mio. Euro und wird zu 90% (!) vom Bund und vom Land Hessen finanziert. Der Jahreshaushalt der Stadt liegt bei 1,4 Milliarden, zudem sinken die Kosten für Fahrer:innen.

Trotzdem wird hier Angst vor einem Schuldenberg geschürt: Image
Beispiel 2

Unwissenschaftlicher Unsinn. Staus in Städten entstehen durch zu viele Autos.

Bahnen, Busse, Rad- und Fußwege sind die effizientesten Verkehrsformen und verringern nachweislich Stau: Image
Der Absurditätsgrad ist so hoch, dass die Linke kurzerhand die Plakate der FDP kopiert hat, und das "nein" durch ein "ja" ersetzt hat - und so dennoch die stimmigere Gesamtaussage erzielt. ImageImage
Die mutmaßlich von der FDP mit unterstützen Bürgerinitiativen hängen einfach wahllos Plakate an Bäume, auf denen "DIESE BÄUME SOLLEN STERBEN FÜR DIE CITYBAHN" steht oder es wird behauptet, Rentner müssten ihre Autos abgeben (ja, kompletter Unfug).
Entsprechend emotional aufgeladen und amerikanisch ist die Debatte. Die Ebene der Sachargumente wurde längst verlassen, es geht bei vielen Gegner:innen primär um Emotionen und das Gefühl, dass die Linksgrünen Ökos ihnen ihre Autos wegnehmen wollen.
Und so ist der Ausgang völlig offen. Wie beim Brexit auch haben sich nur wenig darüber informiert, was passiert, wenn es wirklich zu einem nein kommt: Die Zweitbeste Lösung ist ein sogenanntes BRT-System: Das steht für Bus Rapid Transit, ist deutlich teurer und ineffektiver.
Wenn man die FDP fragt, wie wir die massiven Probleme denn in den Griff bekommen wollen, verweisen diese auf Innovationen, Busspuren und Radverkehr.

Blöd nur, dass sie bei Abstimmungen zu Umweltspuren ebenfalls dagegen stimmen: piwi.wiesbaden.de/sitzung/detail…
Die Position dieser als progressiv geltenden Partei ist zusammengeschrumpft auf eine Mischung aus Klientelpolitik für ein paar reiche Villenbesitzer in der Nähe der angedachten Strecke und einer Portion unwissenschaftlicher Verkehrsesoterik.

Am Sonntag gibt es ein Update.
Ach so, für alle, die in der eigenen Stadt vor einer ähnlichen Herausforderung stehen: Die Bürgerinitiative FÜR die Bahn hat wertvolle Informationen zum Thema zusammengetragen, mit Quellen belegt und auch mal über den deutschen Tellerrand hinaus blickend: procitybahn.de
Update: Der Bau wurde heute mit 62 zu 38 Prozent abgelehnt, die Wahlbeteiligung war recht hoch.
Morgen kommt noch mal ein Update, welche Stadtteile wie abgestimmt haben und hoffentlich auch eine Analyse der Altersstruktur.

Aktuell sieht es nach mindestens 10 weiteren Jahren Bus-Chaos aus.

Wie man sich bettet...

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Aug 1, 2023
DEUTSCHLAND JETZT ABHÄNGIG VON FRANZÖSISCHEM ATOMSTROM?! (Spoiler: Nein)

Das war weder im Mai noch im Juni korrekt, aber für alle Zweifler zeigt der Juli das noch deutlicher: Auch komplett ohne AKW ging unser Nettoimport aus Frankreich im Juli stark zurück:

Thread 1⃣/8⃣ Image
Positive Werte in diesem Diagramm sind Nettoimporte, negative Nettoexporte). Ein ziemlich unauffälliger Wert für einen Juli, denn im Juli 2019 und 2021 lag der Nettoimport aus FR höher (2022 ist ein Ausreißer, 🇫🇷 hatte da Probleme mit seinen Reaktoren):

2⃣ Image
Insgesamt (nicht nur aus🇫🇷) war unser Import im Juli aber recht hoch, wodurch viele deutsche Kohle- und Gaskraftwerke ausgeschaltet blieben. Statt aus eigenen fossilen Kraftwerken kam der mit Abstand meiste Importstrom aus Wind-, Wasser- und Solarkraft:

3⃣ Image
Read 10 tweets
Jul 28, 2023
Heißester Juli on record, marine Hitzewellen, Waldbrände überall, aber @derspiegel erzählt was von paradoxer Klimawende, wenn wir in brandenburger Fichten-Monokulturen (bei 4:30) Windkraft installieren🤦

Thread 1/11 Image
1. Windkraft spart gigantisch mehr CO2 ein als die gerodete Fläche Wald:

Ein halber Hektar Wald speichert jährlich etwa 6 t CO2 ein. Eine 5-MW-WKA spart knapp 12.000 t CO2 ein.

(wenn sie 12,5 GWh erzeugt und damit deutschen Fossilmix mit etwa 950 g CO2/kWH verdrängt)

2/11
Die eine Anlage spart also so viel CO2 ein wie ein 10 km² großer Wald pro Jahr aufnimmt. Deswegen bauen wir an vergleichsweise wenigen Standorten mit guter Windhöffigkeit auch in den Wald Windkraft-Anlagen.

Die Alternative wären mehr Anlagen und Netze an anderer Stelle.

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Read 12 tweets
Jul 24, 2023
Sollten in der Familien-WhatsApp-Gruppe heute wieder Sorgen vor Strom-Engpässen geäußert werden, könnte die BILD-Kampagne der Grund sein, die gestern diesen Unsinn hier verbreitete:

Die Karte zeigt aber nicht Stromgeschäfte, sondern die physikalischen Ströme.

Thread [1⃣/7⃣]
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Das ist tatsächlich nicht das gleiche, weil deutsche Stromleitungen auch dann zum Einsatz kommen, wenn z.B. französischer Strom in die Schweiz exportiert wird.

Der physikalische Stromfluss geht dann von FR über DE nach CH, auch wenn DE gar nichts importiert.

[2⃣/7⃣]
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Kann auch jeder selbst nachvollziehen, bei den energy_charts vom Fraunhofer ISE gibt es dafür eine Unterscheidung zwischen der Stromflüssen und dem Stromhandel.
Viel Spaß beim rumprobieren und identifizieren der Unterschiede:

[3⃣/7⃣]

https://t.co/JgsUyJRIBWenergy-charts.info/charts/import_…
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Read 9 tweets
Jul 5, 2023
Eine Bitte an die vernünftigen Stimmen in der Union:

Wehrt euch gegen diese unwürdige Kampagne, die auf einem peinlichen Rechenfehler in der BILD aufbaut.

Energie bleibt in den kommenden Jahren ein Riesenthema, Ihr müsst da besser werden. Dieser Nonsens hier stärkt nur die AfD
Wir haben nicht an 20% der Tage vor Atomausstieg Strom importiert, sondern an 100%. So funktioniert unser Strommarkt.

Wir hatten an 20% dieser Tage einen Exportüberschuss, das ist etwas vollkommen anderes.

An KEINEM dieser Tage waren wir auf Importe angewiesen.

/2
Das war auch 2021 nicht der Fall, da könnte Dobrindt sich auch vor ein Mikro stellen und fabulieren, dass wir an 15 Tagen aus STROMIMPORTE ANGEWIESEN WAREN!!!

Waren wir nicht. Es war billiger so.

Zu der Zeit liefen übrigens 6 Atomkraftwerke in Deutschland.

/3
Read 6 tweets
Jul 3, 2023
Das Lieblings-Hetzblatt von @jensspahn will wieder die Energiewende schlechtreden.

Importquote seit dem 16.04. sei 82 Prozent, weil an 82% der Tage Strom importiert wurde 😂

1. Wir importierten 2023 JEDEN TAG Strom aus dem Ausland
2. Der Import geht im Sommer IMMER hoch

Thread
Zu 1., hier mal der von Felix Rupprecht geliebte April, in dem bis zum Abschalten der AKW ja alles total prima war, weil wir nur an ganz wenigen Tagen Strom importieren MUSSTEN!

Oops, wir haben an ALLEN Tagen Strom importiert, oder nach Rupprechts Mathe-Künsten: 100% Importquote
Oder hier, der März, jeden Tag Importe. Am 07. März hätten wir fast mal 24 Stunden ohne Import geschafft, weil wir da ordentlich Wind und Sonnenstrom im Mix hatten. Aber nur fast.

Was Jens-Spahn-Einflüsterer Felix Rupprecht eigentlich gezählt hat sind Tage mit mehr Export...
Read 8 tweets
Jul 3, 2023
Energieschwurbel gibt es übrigens auch im linken Spektrum, z.B. von @ernst_klaus (Die Linke). Der ist Vorsitzender im Bundestagsausschuss für Klimaschutz und Energie und hat von Energie ähnlich wenig Ahnung wie Alice Schwarzer von...irgendwas.

Thread 1⃣

web.de/magazine/polit…
Sein Verbrenner-Porsche sei besser fürs Klima als ein E-Auto, weil der aus "hochwertigen" Materialien gefertigt sei und länger hält. Klar, E-Autos bestehen ja aus alten Kirschkernen.
Wie lange ein E-Auto im Schnitt halten wird, ist aber noch gar nicht klar, weil die noch...

2⃣
nicht lang genug fahren, um das seriös bewerten zu können und aus der Batterieforschung aktuell monatlich technische Durchbrüche gemeldet werden. Aber selbst die ersten Batterie-Packs in den Tesla Model S haben schon vor 3 Jahren >800.000 km geschafft

3⃣sueddeutsche.de/auto/tesla-bat…
Read 8 tweets

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