Thread by @Im_Alter_Fische

Amerika.

Ein Thread.

1986 habe ich als Teenager zum ersten Mal die USA besucht, ein Land, das ich damals "Amerika" nannte. Die Schwester meines Patenonkels lebte dort, deshalb musste meine Familie nichts für die Unterkunft bezahlen. Nur so konnten wir uns die Reise leisten.

Ich hatte keine Vorstellung von Amerika, weder positiv noch negativ. Es war mir einfach gleichgültig. An den Flug kann ich mich nicht erinnern, aber an den Moment, als ich aus dem Flugzeug stieg. Es war über 30 Grad warm, trotzdem mild. Dort begann meine Faszination mit dem Land.

Wir fuhren von Washington D.C. nach West Virginia, durch eine Landschaft die ich heute als Rolling Hills beschreiben würde. Alles erschien größer, weiter, auch entspannter. Obwohl ich mich zu Hause nie eingeengt gefühlt hatte, fühlte ich mich jetzt auf eine seltsame Art freier.

Es gab in diesem Urlaub viel zu erleben für einen Jungen, der in diesem Alter gleichzeitig leicht und schwer zu beeindrucken war:

Eine Farm in der Provinz mit eigenem See zum Schwimmen. Ein Essen im Restaurant der Vereinten Nationen, wo man mit einem Bleistift das ausgewählte Gericht auf der Karte ankreuzte.

Eine amerikanische Tante, die sich nichts dabei dachte, 5 Stunden zu fahren, um 2 Stunden an einem Strand verbringen zu können. Ein japanisches Restaurant, in dem das Essen auf einer im Tisch eingelassenen Herdplatte zubereitet wurde.

Eine Stadt, in der man den Kopf in den Nacken legen musste, um den Himmel zu sehen. Ein Kingsize Bett.

Von diesem Urlaub an, hat mich Amerika begleitet. Ich begann Bücher darüber zu lesen. Mit den Jahren wurde mein Englisch besser und ich konnte mich an fremdsprachige Literatur wagen. Irgendwann habe ich mich entschlossen amerikanische Geschichte zu studieren.

Seltsam, denn ohne diese Entscheidung, also ohne Amerika, wäre ich niemals in die Stadt gezogen, in der ich lebe, hätte niemals meine Frau kennengelernt und hätte nicht meine Familie.

Ich habe Amerika nach dem ersten Mal noch weitere sieben- oder achtmal besucht. Die Faszination hat nie nachgelassen. Ich bin durch die Appalachen gewandert, habe in Las Vegas gestaunt, in was der Mensch ein Stück Wüste verwandeln kann,

habe nachts in New York mit Obdachlosen gesungen, bin mit einer roten CCCP-Jacke durch San Diego spaziert (und nur ein Kanadier und Pole haben daran Anstoß genommen), habe in San Antonio einen Cowboyhut von einem Mexikaner gekauft, der deutsch mit österreichischem Akzent sprach.

Und ich habe für mich gelernt, dass man in Amerika die Besten und die Schlechtesten finden kann. Nirgendwo habe ich so aufgeschlossene und hilfreiche Menschen getroffen, und nirgendwo so engstirnige und ignorante.

Natürlich wird einem mit dem Älterwerden klar, dass ein Objekt der Faszination auch Schattenseiten hat. Bei Amerika war das überdeutlich. Jeder kennt die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse und Probleme dort. Die meisten Leute haben eine klare Meinung dazu.

In meinem Studium habe ich all das ausgiebig betrachtet und analysiert. Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr zweifelte ich daran, überhaupt etwas über das Land zu wissen.

Zum ersten Mal ist meine Zuneigung zu Amerika mit der zweiten Bush Jr. – Präsidentschaft wirklich erkaltet. Ich konnte nicht verstehen, wie die Amerikaner diesen Mann in seinem Amt bestätigen konnten.

Dann kam Obama, und mit ihm ein Gesetz, dass ich nicht für möglich gehalten hätte, das als „Obamacare“ bekannte Gesundheitspaket. Amerika konnte mich immer noch gefangen nehmen.

Und nun neigt sich die Zeit des 45. Präsidenten ihrem Ende zu, vier Jahre der Niedertracht. Amerika ist nicht mehr dasselbe. Das gilt nicht erst seit dem Sturm auf das Capitol. Was dort immer schon schlecht war, ist jetzt hoffähig und in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Es gibt sie natürlich immer noch, die aufgeschlossenen und hilfreichen Menschen. Aber ich höre nur noch die schlechten. Ich sehe eine Bananenrepublik. Ich will dieses Land nicht mehr besuchen.

Es fühlt sich ein wenig an, wie der Verlust einer jungen Liebe.