JETZT WOLLNSE AUCH NOCH DIE MATHEMATIK KAPUTT MACHEN!!!! Oder: Wie sich Christiane Heil in einem Artikel in der @faznet auf Teufel komm raus das Narrativ "Black Lives Matter will, dass in den Schulen in den USA nicht mehr 2+2=4 gilt" zurechtbiegt (Thread):
Ich habe heute in einem Familien-Whatsapp-Gruppen-Chat einen Artikel der @faznet zugeschickt bekommen, der von angeblichen Bestrebungen im US-Schulsystem berichtet, das Prinzip der objektiven Wahrheit in der Mathematik aufzulösen, weil dies ein Zeichen weißer Vorherrschaft sei.
Ich glaube, dass in dem Artikel Zitate falsch zugeordnet bzw. extrem verkürzt wiedergegeben werden und dass seine Darstellung deswegen stark irreführend ist – was ich besorgniserregend finde.
Der Artikel steht hinter einer Paywall: faz.net/aktuell/gesell… In der gedruckten Ausgabe der FAZ dürfte er aber auch genug Schaden angerichtet haben.
Es gibt vier Stellen in dem Artikel, an denen die Autorin die im Artikelvorspann aufgestellte Behauptung "In den Vereinigten Staaten soll Mathematik nicht mehr rein objektiv, sondern ein Zeichen 'weißer Vorherrschaft' sein" zu belegen versucht.
Mindestens zwei davon sind nicht korrekt dargestellt, zwei davon berichten meiner Ansicht nach von irrelevanten Vorgängen.
Gleich zum Artikeleinstieg zitiert Christiane Heil den Tweet der US-Studentin Brittanny Marshall, die geschrieben haben soll: "Die Idee von 2 + 2 = 4 hat kulturelle Gründe. Als Folge von westlichem Imperialismus/Kolonialisierung halten wir sie für das einzig richtige."
Der Tweet ist nicht mehr verfügbar, weil Marshalls Account offenbar gelöscht ist. Der Kontext, in dem Marshall diese Aussage getroffen hat, ist deswegen nicht mehr nachvollziehbar.
Marshall sei laut ihrem Twitter-Profil u.a. Lehrerin und Anhängerin der "Black Lives Matter-Bewegung", heißt es Artikel. Auch das lässt sich nicht mehr nachprüfen.
Googlet man ihren Namen in Verbindung mit der Universität, an der sie studiert, stößt man jedoch auf ein Profil von Marshall auf der Uni-Website: gse.rutgers.edu/content/studen…
Letztendlich bleibt festzuhalten: Britanny Marshall ist aktuell Studentin. Ihre Ansichten über Mathematik sind im Zusammenhang des Artikels eigentlich vollkommen irrelevant, weil sie aktuell weder unterrichtet, noch über irgendwelche Entscheidungsgewalt im US-Schulsystem verfügt.
Marshall habe mit ihrem Tweet eine Debatte über Mathematik, Hautfarbe und Herkunft losgetreten, schreibt Heil rechtfertigend. Stimmt das? Eine Google-Suche nach "brittany marshall 2+2" bringt keine Berichte seriöser Medien zutage, die eine solche Debatte dokumentiert hätten.
Ein "Math Ed Collective", das sich mit Marshall solidarisiert, hat jedoch dokumentiert, dass rechtskonservative Medien und Verschwörungstheoretiker Marshalls Tweet zum Anlass genommen haben, Marshall anzugreifen, um gleichzeitig die Black-Lives-Matter-Bewegung zu diskreditieren.
So hat Paul Watson bei Info Wars den Tweet aufgegriffen; der Artikel wurde auch auf anderen Seiten veröffentlicht. Hinzu kommen Berichte beim Washington Examiner und Washington Sentinel:
mathedcollective.wordpress.com/mirror-of-info…
Nochmal: Brittanny Marshall ist Studentin. Warum also steigt Christiane Heil in ihren Text mit diesem Tweet ein? Auf mich wirkt es, als solle damit...
...gleich zu Beginn des Artikels das Narrativ "Black Lives Matter Aktivisten wollen die Grundprinzipien der Mathematik für ungültig erklären" gesetzt und bei den Lesern Empörung geschürt werden.
Der nächste Beleg für eine angebliche "Entwertung der Wahrheit in der Mathematik in den USA" sind angebliche Vorgänge im US-Bundesstaat Oregon. Das dortige Kultusministerium habe Lehrer aufgefordert, sich in einem "Kursus für 'Ethnomathematik'" weiterzubilden, wie Heil schreibt.
Das Oregon Department of Education habe in diesem Zusammenhang geschrieben, dass der Fokus auf das richtige Resultat ein Zeichen 'weißer Vorherrschaft' sei.

Diese Darstellung ist nicht korrekt.
Richtig ist: Das Oregon Department of Education (ODE) verschickt jeden Monat einen Newsletter an seine Lehrer. Die Februar-Ausgabe des Newsletters für Mathelehrer nahm den "Black History Month" zum Anlass, dem Thema entsprechend auf einige Ressourcen zu verweisen.
Darunter ein Kurs, in dem Lehrer lernen sollen, den Mathematikunterricht so zu gestalten, dass er besser auf die Lebensumstände und Bedürfnisse von schwarzen, lateinamerikanischen und mehrsprachigen Schülern eingeht. Von Ethnomathematik war dabei nicht die Rede.
Der Newsletter des ODE ist sogar noch online einsehbar:
content.govdelivery.com/accounts/ORED/…
Angeboten wurde dieser Kurs von der unabhängigen (!) Organisation "Pathway to Equitable Math Instruction". Diese bietet auf ihrer Website ein PDF mit dem Titel "Dismantling Racism in Mathematics Instruction" an.
equitablemath.org/wp-content/upl…
Dieses stand, zumindest so weit sich das heute noch nachvollziehen lässt, mit dem im ODE-Newsletter verlinkten Kurs in keiner direkten Verbindung. Dennoch zitiert Christiane Heil daraus – und schreibt die Zitate fäschlicherweise dem ODE zu.
Sucht man nach "department of oregon mathmatics white supremacy" stößt man auch hier auf Berichte über den Vorfall, die vor allem von rechtsreaktionärer Medien stammen: Fox News, die New York Post und Daily Wire.
Hat sich Heil auf diese Quellen verlassen, ohne selbst nachzurecherchieren? Dabei findet sich auf Seite 1 von Google auch ein Link zu einem Artikel von Snopes, der deutlich macht, dass viele der bisherigen Berichte über die Vorgänge irreführend sind:
snopes.com/fact-check/edu…
Nebenbei: Auch wenn einige der Formulierungen und Forderungen aus dem "Dismantling Racism"-PDF sicherlich diskussionswürdig sind, heißt es darin auch: "Of course, most math problems have correct answers, but sometimes ...
there can be more than one way to interpret a problem, especially word problems, leading to more than one possible right answer."
Letztendlich, so verstehe ich die Bemühungen der Organisation, geht es nicht darum, den Schülern "falsche Antworten" beizubringen, sondern besser auf deren unterschiedliche Bedürfnisse einzugehen und damit den Unterricht gerechter und zugänglicher zu machen.
Aber weiter im Artikeltext. An einer weiteren Stelle behauptet Heil, einige amerikanische Pädagogen würden die Abschaffung von Algebra fordern. Sie zitiert dabei aus einer "Diskussionsrunde des Senders NPR".
Versucht man das Zitat im Original aufzustöbern, stößt man auf der NPR-Website auf einen Artikel aus dem Jahr 2017 (!). In diesem wird ein Interview mit dem Chef der kalifornischen Community-College-Systems zusammengefasst:
npr.org/2017/07/19/538…
Heil zitiert aus diesem Artikel. Das Zitat ist aus mehreren Gründen problematisch: Zunächst einmal lässt Heil einen Satz aus dem Originalzitat aus, ohne dies kenntlich zu machen. Im Original heißt das Zitat:
"Algebra is one of the biggest hurdles to getting a high school or college degree — particularly for students of color and first-generation undergrads. It is also the single most failed course in community colleges across the country. ...
... So if you're not a STEM major (science, technology, engineering, math), why even study algebra?"
Heil macht daraus: "Algebra ist eine der höchsten Hürden für Schulabschluss oder Bachelor, besonders für nichtweiße Schüler oder Studenten. ...
... Wenn man sich nicht auf eines der Mint-Fächer Mathematik, Technologie oder Ingenieur- und Naturwissenschaften konzentrieren möchte, warum überhaupt Algebra lernen?"

Sie lässt also den Hinweis auf die Community Colleges weg.
Dieser ist jedoch von Bedeutung. Denn Community Colleges besuchen US-Studenten nach der High School; sie sollen u.a. Schülern, die sich die Studiengebühren der traditionellen Universitäten nicht leisten können, den Abschluss eines Bachelors ermöglichen.
Im Zitat von NPR geht es also nicht darum, dass US-Schüler während ihrer gesamten Schullaufbahn keine Algebra lernen sollen, sondern dass sie, wenn sie keine Mint-Fächer studieren (!), keine Algebra lernen müssen.
Hinzu kommt: Weder haben mehrere US-Pädagogen (Heil verwendet ja den Plural) eine solche Forderung aufgestellt, noch hat auch nur ein einzelner US-Pädagoge je die von Heil zitierte Aussage von sich gegeben – denn sie stammt ja von NPR.
Auch in dem im NPR-Artikel als Audiodatei eingebetteten und heute noch abrufbaren Interview mit dem Chef des kalifornischen Community-College-Systems fällt das Zitat nicht in diesem Wortlaut.
Der nächste von Heil angeführte Beleg: Der Schulbezirk Seattle im Bundesstaat Washington habe vor zwei Jahren angesetzt, den Unterricht zu "entkolonialisieren" und Mathematik durch Programme wie Unterwasserrobotik, Streetart und Genderstudien zu ergänzen, schreibt Heil.
Das ist der erste von Heil für ihre Behauptung angeführte "Beleg", an dem meinem Empfinden nach zumindest ein bisschen Wahrheit dran ist – wenn auch Heil erneut sehr zugespitzt.
Googlet man nach Berichten über diese Vorgänge, stößt man auf einen Bericht der Seattle Times:
seattletimes.com/education-lab/…
Was ist also geschehen? Tracy Castro-Gill, die Verantwortliche für "Ethnic Studies" im Schulbezirk Seattle, hatte für mehrere Fächer Entwürfe vorgelegt, wie "Ethnic Studies" stärker in einzelne Fächer integriert werden könnten – u.a. auch in Mathematik.
k12.wa.us/sites/default/…
Ob das sinnvoll ist, kann man natürlich diskutieren. Die Seattle Times zitiert Castro-Gill mit den Worten: "Nirgendwo in diesem Dokument heißt es, dass Mathematik inhärent rassistisch ist. Es geht darum, wie Mathematik als Unterdrückungsinstrument genutzt wurde."
Von Unterwasserrobotik, Streetart oder Genderstudien ist in dem Entwurf jedoch keine Rede. Woher kommt also die von Heil genannte Information?
Vielleicht aus diesem Artikel von der Website von Russia Today (RT), einem Medium, dessen journalistische Neutralität von vielen... sagen wir mal... hinterfragt wird?
rt.com/op-ed/494718-m…
Zumindest wird Castro-Gill darin sinngemäß ähnlich wie bei Heil zitiert. Die Originalquelle, deren Aussage RT relativ sinnentstellend zitiert, ist offenbar ein Artikel in Castro-Gills Blog:
teacheractivist.com/2018/09/02/the…
Castro-Gill schreibt darin, dass an der Schule an der sie unterrichtet hat, viele Schüler von ihren Eltern dazu gedrängt worden seien, ihre Wahlstunden auch mit Mathematik oder Lesen zu belegen.
Die Schule hätte die Eltern oft dazu gedrängt, diese Art von Förderung auf den Nachmittag nach der Schule zu verlegen, damit die Schüler auch an "Enrichment Programs" wie Unterwasserrobotik, Urban Arts und die "Gender and Sexuality Alliance" teilnehmen können.
Erneut: Dieser persönliche Blog-Eintrag steht mit dem von Castro-Gill vorgelegten Entwurf in keinem direkten Zusammenhang. Letztendlich bleibt auch hier der Eindruck zurück, dass Heil einfach die Darstellung eines anderen Mediums ungeprüft übernommen hat.
Und dass sie "nutzlose Tätigkeiten" wie Unterwasserrobotik, Streetart (auch hier lässt sich über die Korrektheit der Übersetzung streiten) und Gender Studies (Reizwort!) gezielt übernommen hat, um bei der in der Regel konservativen Leserschaft der FAZ Empörung zu triggern.
Letztendlich wirkt der Artikel so, als habe Heil mehrere irrelevante Ereignisse zusammengerührt und zugespitzt, um den Eindruck zu erwecken, dass "woke" Aktivisten das US-Schulsystem unterwandern und vollkommen wahnsinnnige Lehrpläne erstellen.
Hätte man nur zwei oder drei Stunden investiert, um zu überprüfen ob diese Darstellung auch nur annähernd der Wahrheit entspricht, hätte man zu dem Schluss kommen können, dass dies nicht der Fall ist.
Ich finde es besorgniserregend, dass eine der größten deutschen Tageszeitungen auf diese Weise die Wahrheit verzerrt und Ressentiments bedient.
Wollte eigentlich einen anderen Link an dieser Stelle einfügen. Hier die Dokumentation des "Math Ed Collective" der Berichterstattung rechtskonservativer Medien über Marshalls Tweet. mathedcollective.wordpress.com/2020/07/09/att…

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Roland Eisenbrand

Roland Eisenbrand Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal Become our Patreon

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!