***Thread***
Im Gegensatz zu vielen seiner Anhänger, habe ich Höckes Buch gelesen und insbesondere den politischen Teil einer Prüfung unterzogen. Dieser Teil beginnt auf S.257 seines Buches und ist mit „Krise und Renovation“ überschrieben. Ich zitiere hier Stellen aus seinem Buch
und kommentiere sie. Das Buch ist als Dialog geschrieben. Höcke beantwortet also Fragen. Höckes Zitate sind mit Anführungszeichen gekennzeichnet, die Fragen an ihn mit vorgestellter „Frage“ markiert.

S.263/264
„In der von Ihnen genannten Dichtung Ovids erfahren wir von
Jupiters Entscheidung, das unfähige und gottlose Menschengeschlecht mittels Sintflut zu vernichten – aber mit dem Versprechen, ein neues, besseres Geschlecht zu schaffen. Vor diesem drastischen göttlichen Eingriff sollten wir Menschen selbst einen Versuch der Erneuerung wagen.“
Höcke sieht die Menschheit vor dem endgültigen existenziellen Ende. Seinen politischen Ansatz, betrachtet er als letzte Möglichkeit der Menschheitsrettung.

S. 265/266
„Ein funktionierendes Gemeinwesen bedarf auch einer produktiven Wirtschaftsordnung, die ein ausgewogenes
soziales Gefüge generiert und nicht die Kluft zwischen Reich und Arm vergrößert – sie wird als post-kapitalistisch sein, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“
Höcke lehnt den Kapitalismus ab. Den Sozialismus lehnt er hingegen nur in seiner
„alten Machart“ ab. Daraus folgt logisch, dass es um einen neuen Sozialismus geht, sofern man ihm nicht Ungenauigkeit in der Wortwahl vorwerfen möchte, was an einer so wesentlichen Stelle des Buches kaum anzunehmen ist, wenn er schon darauf verzichtet, die Wirtschaftsordnung
positiv zu beschreiben und eine Abgrenzung nur als Ablehnung vornimmt.

S. 267
Frage: Für die drohende Nachtmeerfahrt bedarf das Volk einer spirituellen Orientierungshilfe?
„Ja, auf jeden Fall. Aber angesichts des schlimmen Zustandes unserer christlichen Kirchen wird es ohne
eine erneute Reformation in Deutschland nicht gehen.“
Höckes betrachtet eine Reformation des christlichen Glaubens in Deutschland als Voraussetzung für eine Umsetzung seiner Politik.

S.268
„Wir brauchen im Grunde eine neue Volkskirche, […]
Sicherlich sollte sie fest in der
Kultur des Volkes verankert sein. […] Eine neue Volkskirche müßte die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen
Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig in Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“
Wie er zuvor eine neue Religion schon zur Voraussetzung seiner Politik gemacht hat, so setzt er hier detaillierter fort. Mit Bräuchen und Ritualen sind
eindeutig nicht christliche gemeint, sonst müsste man sie mit dem christlichen spirituellen Impuls nicht verbinden. Näher liegt es, Reste heidnischer germanischer Bräuche anzunehmen, die sich im Osterfest oder dem Weihnachtsfest auch des Christentums wiederfinden. Auch hier
bleibt Höcke aber im Ungefähren und gibt nur mit der „beseelten Natur“ einen weiteren entsprechenden Hinweis in diese Richtung. Die Forderung nach einer Volksreligion findet sich aber auch an anderer Stelle des Buches, sodass man von einiger Wichtigkeit dieser Frage für Höcke
ausgehen darf.

S.271
„Die damit verbundene Beschränkung in einer Dimension kann zu einer verstärkten Entfaltung in einer anderen Dimension führen. Zum Beispiel, indem man die Bescheidung im Materiellen mit der Vertiefung des Immateriellen sinnvoll kompensiert.“

Der Gang ins
Kloster wäre sicher eine nützliche Erfahrung für Herrn Höcke, für ein Volk aber wohl kein allgemeingültiger Lebensentwurf.

S.280
„Wie eine neue europäische Architektur genau aussehen wird, kann man jetzt noch nicht sagen. Grundlage sollte, wie gesagt, die Achtung der nationalen
Souveränität sowie der kulturellen und ethnischen Eigenständigkeit sein.“

Die ethnische Eigenständigkeit der europäischen Völker untereinander verlangt Höcke. Mithin die ethnische Trennung von Spaniern, Franzosen, Briten, Deutschen.

S.280
„Allein aufgrund unserer
geopolitischen Lage haben wir Deutschen ein großes Interesse an einem gedeihlichen Modus vivendi mit unseren Nachbarstaaten und befreundeten Völkern und Stämmen.“

Das steht da wirklich: „Völkern und Stämmen“!

Darauf folgt die Frage: „Das geht in Richtung einer neuen
Großraumordnung, wie sie von Carl Schmitt Ende der 1930er Jahre entwickelt wurde.“

Höcke bleibt schwammig, aber lehnt es nicht ab.
Deutschland quasi als regionale Hegemonialmacht Europas in Abgrenzung und in Ablehnung jeder Einmischung anderer regionaler Hegemonialstaaten wie
den USA in Amerika, Russland und China in Asien. Ist es das, was Höcke tatsächlich glaubt, umsetzen zu können? Dass das friedlich nicht umsetzbar ist, versteht sich eigentlich von selbst.

S.285/286
„Wir haben natürlich eine idealtypische Vorstellung, ein vielleicht etwas
verklärtes Bild von unserem Volk, aber es dient als Leitstern für unsere Aufgabe der Selbstveredelung – wie es heute bereits in viel kleinerer Dimension bei der individuellen „Selbstoptimierung“ verbreitet ist. […]
Jedem Ding und Leben dieser Welt – auch einem Volk – ist die
Aufgabe der Selbstentfaltung mitgegeben. Um nun als Deutsche wieder zu einem vollwertigen, eigenständigen und differenzierten Volk zu werden, brauchen wir weniger die Not als Zuchtmeister, als eine fordernde und fördernde Elite, die unsere Volksgeister wieder weckt.“

Die
politische Linke nennt es die Schaffung des neuen Menschen. Der alte muss verschwinden, damit der neue Mensch entstehen kann. Bei Höcke gilt diese Vorstellung für das Volk. Wir brauchen eine Fortentwicklung zur Existenzberechtigung. Das Individuum spielt hier längst keine Rolle
mehr. Man denkt unwillkürlich an das „Lebensborn-Projekt“, auch weil Höcke es tunlichst unterlässt, seine Vorstellung einer Fortentwicklung zu beschreiben. Wie muss ein Angehöriger des deutschen Volkes denn aussehen und seinem Wesen nach sein, damit er als Mitglied des
vollwertigen, eigenständigen und selbstoptimierten Volkes durchgeht?
Der zweite Aspekt ist der Eliten-Gedanke. Nicht das Volk aus sich heraus entwickelt sich fort, sondern eine Führungs-Elite weist dem Volk den Weg dorthin.
Ganz neu ist der Gedanke nicht.
Die SS war ein
Männerorden. Heinrich Himmler verkündete 1929, er wolle zukünftig aus der SS eine Sippengemeinschaft von Männern und Frauen formen, eine rassische Oberschicht des germanischen Volkes als Führungselite eines von den Nazis beherrschten Europas.

S.286
Frage: Aber ist das Volk
überhaupt in der Lage, sich selbst aus dem Sumpf herauszuziehen?
„Machiavelli bestritt das ja vehement. Er ging von einem „Uomo virtuoso“ aus, der nur als alleiniger Inhaber der Staatsmacht ein zerrüttetes Gemeinwesen wieder in Ordnung bringen könne.“

Na endlich, möchte man fast
sagen. Da ist er, der finale Gedanke vom Führerstaat. Machiavelli beschreibt mit dem „Uomo virtuoso“ den Anführer, der nach einem totalen Zusammenbruch der staatlichen und moralischen Ordnung die alleinige Führung übernimmt und das Volk als guter Despot in eine segensreiche
Zukunft führt.
In diesem Satz liegt die ganze kühl kalkulierte Perversion des Höckeschen Politikansatzes. Er verlangt nämlich zunächst den totalen staatlichen und moralisch-sittlichen Verfall, also die Verzweiflung der Massen, ohne die niemand sich auf einen Despoten Höcke
einlassen würde. Der virtuose Höcke braucht das totale Scheitern und Versagen anderer Ideologien und alter Ordnungen. Erst danach kann er sein Genie entfalten. Primärziel ist nicht die Verhinderung der schlimmsten Auswüchse dessen, was man von Grünen Ideologen zu befürchten hat,
sondern vielmehr deren möglichst zügige und vollständige Umsetzung und nachfolgendes Scheitern. Eine AfD bei 30% zum jetzigen Zeitpunkt wäre für Höcke ein Problem, die von ihm formulierten Bedingungen für den Erfolg seines Politikansatzes wären nicht gegeben.

Höcke beschreibt
in seinem Buch vage, aber erkennbar nahezu alle Aspekte des deutschen Faschismus, des Nationalsozialismus. Beginnend mit einem anderen Sozialismus über die Anknüpfung an germanische Volksreligionen, Optimierung des Volkes, ethnische Abgrenzung, Führungselite des Volkes, bis hin
zum Führergedanken, findet man das gesamte Arsenal dieser Ideologie.
Man könnte schmunzeln bei dem Gedanken, so absurd wirkt das Ganze auf mich, wenn da nicht ein Satz wäre, bei dem ich geneigt bin, ihm zuzustimmen:

S.257/258
„Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht
ausreichen. Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen.“

Seine Anhänger und Verteidiger werden darauf verweisen,
dass auch ich Höcke bewusst falsch und nachteilig interpretiere, wie er selbst in seinem Buch beklagt, dass das häufig geschehe.
Er erwähnt das von ihm so genannte „Denkmal der Schande“ und beklagt die Fehldeutung dieser Bezeichnung des Holocaust-Mahnmals durch ihn.
Er schreibt:
„Gemeint war eindeutig: Wer sonst außer den Deutschen stellt seine eigene Schande in den Mittelpunkt des nationalen Gedenkens?“
Der Redeabschnitt über das „Denkmal der Schande“ ist häufig zitiert, aber er wird immer verkürzt und damit verfälschend zitiert.
Üblich und bekannt ist
das folgende Zitat: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“
Und in der Tat, ersetzt man „Denkmal der Schande“ in diesem Zitat, mit der Deutung „Denkmal unserer Schande“,
ergibt der Satz immer noch Sinn. Man könnte also zu Gunsten von Höcke annehmen, dass er es so gemeint hat, wie er dies nun auch in seinem Buch selbst schreibt.

Schauen wir aber auf das vollständige Zitat, wie Höcke es in Dresden sagte: „Wir Deutschen – und ich rede jetzt nicht
von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“
Und jetzt lesen wir die Sätze mit der von Höcke behaupteten Auslegung:
Wir
Deutschen – und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal unserer Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.

Der Einschub zu den anwesenden
Patrioten, belegt Höckes unehrlichen Umgang mit seiner Rede; sie ist ihm offenkundig peinlich. Von einem Denkmal „unserer“ Schande kann gar nicht die Rede sein. Er nimmt die anwesenden Patrioten nämlich ausdrücklich davon aus, sich dieses Denkmal zu Eigen gemacht zu haben.
Als
weiteres Indiz kann folgender Ausschnitt aus derselben Rede Höckes herhalten:
„Liebe Freunde, die Bundespräsidenten dieser Republik, die haben keine Geschichte geschrieben…
[Gelächter]
...und sie haben sehr wenig bedeutsame Reden gehalten. Eine der bedeutsamsten Reden, die von
einem Bundespräsidenten gehalten wurde, das war die Rede von Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985.
[Applaus]
Das war eine rhetorisch wunderbar ausgearbeitete Rede, stilistisch perfekt. Richard von Weizsäcker war ein Könner des Wortes. Aber es war eine Rede gegen das eigene Volk
und nicht für das eigene Volk.“
Man kann die Weizsäcker-Rede schwerlich als Rede gegen das eigene Volk interpretieren, wenn man das Mahnmal als „Denkmal unserer Schande“ betrachtet.

Höcke selbst zitiert die Passage nie vollständig, was zumindest den Schluss zulässt, dass ihm
die Schwäche seiner Argumentation bewusst ist.

Dem Bürger und Wähler sollte eine Warnung sein, was Höcke schreibt und sagt. Jeder kann sich mal vergreifen. Die wenigsten tun es ständig.
Wenn Höcke im Oktober Fraktionsvorsitzender der AfD im Deutschen Bundestag ist und kurz darauf Parteivorsitzender, ist das kein Spiel mehr.
***Ende***

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