Thread by @lapiquirit

Große Empfehlung und ganz herzlichen Dank @KJPGehrden für die deutlichen Worte in der Podcast-Folge zu #Legasthenie beim »Gewünschtesten Wunschkind« (10/2020). Anbei ein paar Gedanken und Zitate 🧵

podcast.de/episode/498306…

Als #Dyskalkulie-Sorgenkind habe ich die gesamte Schulzeit unfassbar viel Energie ins Üben und Lernen gesteckt, um auf mittelmäßige bis gute Noten in Mathe zu kommen – durch Auswendig lernen statt Verstehen. 13 Jahre Freizeit im Tausch für eine andere Ziffer auf dem Zeugnis.

Dies führte dazu, den Großteil des Tages mit Dingen konfrontiert zu werden, die ich nicht begriff – was nachhaltig meine Selbstwahrnehmung verzerrte. Ich traute mir immer weniger zu, es führte letztlich zu Ängsten und chronischer Depression (alle Schweregrade durchgespielt).

Trotz Abitur/Studium mit sehr guten Leistungen ist in meiner Psyche tief verankert, dass ich »dumm« bin und nichts kann. Es kostet täglich Energie diese Stimme in meinem Kopf anzuzweifeln, ihr an guten Tagen zu widersprechen.

Meine Frustrationstoleranz ist so gering, dass mich ein Parkautomat, den ich nicht auf Anhieb verstehe, triggern kann. (Leider kein erfundenes Beispiel)

Mir generell neues Wissen anzulesen ist ein sprichwörtliches Minenfeld. Denn sobald ich etwas nicht direkt begreife, ist die Gefahr hoch psychisch abzustürzen. Neues Wissen ist unmittelbar mit Angst verknüpft.

Zurück zur Podcast-Folge. Ich habe mir erlaubt ein paar Zitate herauszuschreiben, die mir aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit #Teilleistungsschwäche wichtig sind und viel bedeutet haben:

»Was wir wissen müssen, ist, dass Kinder mit einer Lese-/Rechtschreibstörung eine Risikogruppe sind. Und zwar nicht für eine 6 in Deutsch, natürlich auch, sondern insbesondere für das Vorhanden sein von psychischen Erkrankungen.«

Ängste, depressiver Rückzug, Schulvermeidung, Schulangst, im Jugendalter manifeste Depressionen, (…) schwere Depressionen bis hin zur Suizidalität.

»Das sind Risikogruppen, die von sehr ernsten psychischen Belastungen betroffen sind, wenn wir sie nicht entlasten.«

»Das Ziel der Hilfe an meinem Kind ist NICHT, dass es eine 2 in Deutsch kriegt. (…) Sondern das Ziel ist, dass es gut und gesund und glücklich und selbstbewusst durch die Kindheit und Jugend kommt.«

»Die Eltern sollen keineswegs den ganzen Nachmittag mit den Kindern da sitzen und üben. Gott bewahre – auf keinen Fall! (…) Eltern haben die Hauptaufgabe und Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Kinder auch noch was anderes machen können.« (andere Fähigkeiten entwickeln)

// Erstaunlich finde ich in diesem Zusammenhang wie sich die Dyskalkulie meiner Cousine auf ihr Selbstwertempfinden ausgewirkt hat: Nämlich gar nicht. Ihre Eltern beide aus der Geisteswissenschaft und »auch nicht gut in Mathe«.

Dass sie ebenfalls »kein Mathe kann«, hat nicht verwundert und niemanden gestört. Es war ja »nur Mathe« und es gab abseits davon Wichtigeres / Spannenderes / Schöneres zu tun, in dem man sich entfalten konnte.

Und wenn die Dyskalkulie im Alltag zum Ärgernis / Hindernis wird, dann ist bei ihr nicht sie selbst schuld, sondern »das [sic] blöde Mathe«.

Deshalb ist es wichtig, dass es inzwischen #Nachteilsausgleich gibt, sich der Umgang damit weiterhin bessert. Ich frage mich durchaus, wo ich jetzt stünde, wenn ich weniger Zeit investiert hätte. Ich weiß nicht, wie es heute ist, in den 90er/2000er so:

https://twitter.com/7VAMPIR/status/1401062223297011712

Wegen einer 4 in einem Hauptfach (Mathe) kam ich auf die Hauptschule. Dort musste ich viel pauken um in den A-Kurs in Mathe aufzusteigen, denn sonst gab es keine Realschulempfehlung. Ich wollte wegen Mobbing unbedingt weg. Zur 7. Klasse war der Wechsel.

In der ersten Realschul-Mathestunde kam ich ohne Meldung dran und konnte die Frage nicht beantworten. Ich wurde ausgelacht und mir wurde gesagt, dass ich doch besser wieder auf die Hauptschule gehen solle.

Es ist nicht so, dass meine Eltern mich zum Lernen gezwungen hätten, aber ich wollte allen beweisen nicht »dumm« zu sein und war privilegiert, Familienmitglieder zu haben, die täglich stundenlang mit mir geübt haben. Neben Mathe dann auch in Physik, Chemie, Bio.

Habe es letztlich »allen bewiesen«, mich selbst konnte ich nicht überzeugen. Die Realschule als Jahrgangsbeste abgeschlossen, das Gefühl von Unfähigkeit blieb. Die Gymnasialempfehlung hatte ich in der Tasche, der Zeitaufwand um dort meine Noten zu halten wurde immer größer.

Side Note: Weil ich in der Oberstufe möglichst viele Naturwissenschaften abgewählt hatte, musste ich mit Mathe ins mündliche Abi. 🤡

Worauf ich hinaus möchte: Meine Familie hat mich wo sie nur konnte unterstützt, mit mir gerlernt, geweint, bei guten Noten gefeiert. Aber ich hätte auch dringend die Info gebraucht: »Es ist ok, dass du das nicht gut kannst. Scheiß auf gute Noten.«

Durch Abi/Studium stehe ich wirtschaftlich grundsätzlich sehr gut da. Aufgrund von phasenweiser Arbeitsunfähigkeit wegen Depression fühlt sich dieses Fundament allerdings nicht besonders sicher an.

Hätte es sich auf meine mentale Gesundheit und wirtschaftliche Stabilität besser ausgewirkt mit dem guten Realschulabschluss eine Ausbildung zu machen? Oder hätte ich dadurch mein Potential nicht ausgeschöpft und wäre unzufriedener? Das frage ich mich manchmal.

Ein Antrag auf Lern-/Psychotherapie wurde damals übrigens abgelehnt. Wenn ich mir meine Historie an ambulanter und stationärer Therapie als Erwachsene so anschaue, ist diese Rechnung von Jugendamt und Krankenkasse allerdings nicht aufgegangen.