#FairLesen macht Wind – und wirft viele Fragen auf. Weil die Debatte zum Teil recht erhitzt geführt wird, hier einige Hintergründe, so sachlich wie möglich. Ein Thread.
Vorab: Ich bin nicht neutral und habe die Initiative aus Überzeugung mit unterschrieben, als Bücherverleger und Bücherschreiber. Andererseits sind Bibliotheken für mich rundum unverzichtbar, ohne sie wäre ich weder dies noch das noch irgendwas geworden.
Ausgangspunkt: Es geht um Verteilung von Geld. Wem der Sinn nach Weltrettung steht, möge diesmal bitte weiterziehen, es gibt hier nichts zu sehen.
Ja, wir Verlage verweisen in solchen Auseinandersetzungen gern und ein wenig reflexhaft auf höhere Werte wie Freiheit des Wortes und Meinungsfreiheit. Es lohnt sich immer, genau zu schauen, ob die wirklich gerade in Frage stehen.
Ebenso erinnern die Bibliotheken in solchen Momenten aus guten Gründen besonders deutlich an ihren Auftrag zu kultureller Bildung, auch wenn es konkret um Zugang zu den neuesten Spiegel-Bestsellern geht.
Anderseits sind Verweise auf höhere Werte nicht vollkommen falsch: Um die geht es sämtlichen Beteiligten ja tatsächlich. Wir alle machen das aus der nicht totzukriegenden Überzeugung, dass Bücher mehr sind als Verkaufseinheiten. Dass sie etwas bedeuten, dass sie etwas bewirken.
Nennt es meinetwegen wahr oder schön oder gut – und die unlösbare Frage, was mit „wahr“ und „schön“ und „gut“ um Himmels willen gemeint ist, beantworten ebenfalls am besten die Bücher.
Jedenfalls: Nur wer seine Arbeit gut machen kann, kann gute Arbeit machen.
Apropos Beteiligte. Es sind viele Mitspieler dabei: Bibliotheken, Autorinnen und Autoren, Verlage, zudem die öffentliche Hand mit den unterschiedlichen Perspektiven von Bund und Kommunen, dazu kommen Verwertungsgesellschaften und die Onleihe-Plattform Divibib.
Ziemlich viele Köche. Ziemlich viele Interessen. Das ist nicht schlimm, im besten Fall entsteht ein Zusammenspiel, bei dem alle tun, was sie am besten können. Allerdings wird es leicht unübersichtlich.
Häufiges Missverständnis: Onleihe funktioniere wie Streaming, man habe also jederzeit Zugriff auf sämtliche angebotenen Titel. Das ist falsch. Tatsächlich gilt das Prinzip One Copy/One Loan. Jedes E-Book kann zu jedem Zeitpunkt nur von einer Person ausgeliehen werden.
Nach Ablauf der Leihfrist wird die Datei unbrauchbar gemacht und der oder die Nächste kann das E-Book leihen.
Wenn Verlage sagen, dass E-Books in der Onleihe fast gratis gelesen werden, bezieht sich das auf die Ausleihe. Die Bibliotheken selbst haben natürlich Kosten, sie kaufen die E-Books über ein zwischengeschaltetes Unternehmen (Divibib) zum teilweise leicht erhöhten Ladenpreis ein.
Die Zahl der Ausleihen wird entweder in der Menge oder zeitlich begrenzt, danach muss nachgekauft werden. Die genauen Lizenzbedingungen variieren leicht, einheitliche Regelungen verbietet das Kartellrecht.
(Liebe eventuell mitlesende Politik: Eine Ausnahmegenehmigung für das gemeinsame Verhandeln fairer Bedingungen wäre hilfreich.) Für jede einzelne Ausleihe wird keine Lizenzgebühr mehr fällig.
Autorinnen und Autoren bekommen von ihrem Verlag einen fixen Anteil am Nettoverlagserlös der E-Books, egal ob die Einnahmen durch Verkauf oder Onleihe erfolgen.
Beim Verleihen gedruckter Bücher wird eine Bibliothekstantieme an die Verwertungsgesellschaft (VG Wort) gezahlt. Das ist ein seit Jahren fixer hoher Betrag, der dann durch sämtliche Verleihvorgänge eines Jahres geteilt wird.
Am Ende gibt es für jede Ausleihe ca. 4,3 Cent, davon bekommen Autorin & Autor 3,0 Cent und der Verlag 1,3 Cent. Es möge jeder selbst entscheiden, ob das auskömmlich ist. (Antwort: Nein.)
Für E-Books wird keine Bibliothekstantieme gezahlt, was auch daran liegt, dass sie aus dem gleichen Topf käme, das Geld würde also einfach anders verteilt.
Bei gedruckten Büchern funktioniert das System zur allseitigen Zufriedenheit: Bibliotheken übernehmen eine wichtige Grundversorgung, viele kaufen trotzdem lieber ein eigenes Buch, das sie behalten, verschenken, vollkritzeln können (oder was auch immer ihr mit Büchern anstellt).
In der digitalen Welt macht es für die Nutzung kaum einen Unterschied, ob ich kaufe oder onleihe: Das E-Book ist immer frisch, ohne Kaffeeflecken und Anstreichungen und ich hole es mir beim Kauf wie bei der Onleihe vom heimischen Sofa aus.
Das ist einfach großartig im Hinblick auf Barrierefreiheit und gesellschaftliche Teilhabe. Hier leisten Bibliotheken eine unentbehrliche Arbeit – ein gar nicht hoch genug zu schätzender Punkt, an dem es nichts zu rütteln gibt.
Nur gibt es natürlich auch hier ein Aber: Eine im November 2019 vorgestellte GfK-Studie hat ergeben, dass das Angebot der Bibliotheken mittlerweile für fast die Hälfte aller E-Book-Nutzungen verantwortlich ist: 46% der E-Book-Lektüren erfolgt demnach über die Onleihe.
Der allergrößte Teil entfällt dabei auf Bestseller, deren Anteil an den Ausleihen sogar zunimmt. Laut dieser Studie sind es zu zwei Dritteln überdurchschnittlich gebildete und gut situierte Menschen, die die Onleihe nutzen.
45% von ihnen kaufen seit der Nutzung dieses Angebots weniger E-Books. Man nennt das Kannibalisierung. Sie berührt die berühmte Mischkalkulation der Verlage: Wenige gut gehende Büchern finanzieren die Breite des Programms.
Viele Verlage geben daher ihre absehbaren Bestsellertitel erst mit zeitlicher Verzögerung von einigen Monaten in die Onleihe („Windowing“). Man kennt so etwas aus dem Taschenbuch oder von Kinofilmen, die erst später auf anderen Kanälen erhältlich sind.
Bibliotheken wollen ihren Mitgliedern das bestmögliche Angebot machen. Deshalb fordert der deutsche Bibliotheksverband von der Politik, dass die Verlage ihnen jedes einzelne E-Book ab dem ersten Erscheinungstag für die Onleihe zur Verfügung stellen müssen.
Urheberverbände und Verlage nennen diese angestrebte Praxis „Zwangslizenz“, eine zugegebenermaßen nicht vollständig neutrale Formulierung. Im Kern aber trifft es die Sache, und rhetorisch sind beide Seiten – siehe oben – nicht zimperlich.
In diesem Jahr fand die Forderung Gehör: Im Mai brachte der Bundesrat eine Gesetzesinitiative ein, die in der laufenden Legislaturperiode jedoch nicht mehr angenommen wurde. Nach der Bundestagswahl erneuerte der Bibliotheksverband seinen Wunsch.
Daraufhin gründeten Autorinnen, Autoren, Verlage und Buchhandlungen die Initiative #FairLesen, fast zweihundert von ihnen veröffentlichten gestern einen offenen Brief. Seither hat sich die Zahl der Unterzeichnenden vervielfacht.
Artikel 11 des Urheberrechts bestimmt, die Nutzung eines Werkes solle eine „angemessene Vergütung“ nach sich ziehen.
Und jetzt?

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