Wissenschaftler entwickeln ein Messer aus #Holz, das schärfer ist als Stahl.
Die Story habe ich in den letzten Tagen häufiger gesehen. Klingt cool und nachhaltig.
Un da ich zufällig vom Fach bin, wollte ich mal sehen was dran ist (Spoiler: nicht besonders viel)
Ein Thread 🧵
Es berichten u.a. @derspiegel und @dlfnova. Auf Twitter prominent verbreitet von @BlakesWort und @Chemguy2_0

Und zugegeben, das Bild sieht schon ziemlich cool aus.
Ich habe mir also den wissenschaftlichen Artikel angeschaut, auf dem die Meldung beruht.
spiegel.de/wissenschaft/t…
Erst mal kurz zum Prozess: zuerst wird ein Teil der Holzstruktur aufgelöst und der Rest dann zusammengepresst. Das entstehende Material ist sehr hart und stabil. Daraus haben die Forscher dann ein Messer geschnitzt, das "dreimal schärfer" ist als Edelstahl.
Zuerst war ich irritiert, dass die Arbeit so hohe Wellen schlägt, denn die verwendeten Methoden sind alles andere als neu. Hier ein Beispiel für einen ganz ähnlichen Prozess.
Holzverdichtung wird sogar schon seit Jahrzehnten erforscht. ethz.ch/de/wirtschaft/…
Aber dann ist mir noch etwas anderes aufgefallen: die Aussage über die Schärfe.
Um sie zu messen haben die Wissenschaftler verschiedene Messer in eine Schneidemaschine gespannt und diese hat ein Stück Plastik zerschnitten. Einmal mit und einmal ohne hin und her bewegen (sliding)
Hier die Ergebnisse (HW sind die hergestellten Messer). Je höher die Kraft die zum Schneiden benötigt wird, desto weniger scharf das Messer (Kraft wird zwar nicht in kg gemessen, aber was soll's).
Die niedrigen Balken bei HW zeigen also dass die Messer schärfer sind als Stahl.
Aber "dreimal schärfer"? Das passt nur, wenn man Stahl OHNE sliding mit HW MIT sliding vergleicht und das ist ziemlich unkorrekt. Naja ok, ein bisschen überdramatisiert, was soll's.
Aber was heisst überhaupt "Steel"? Was für Messer wurden da verglichen? Wahrscheinlich so, oder?
Ach ne, das sind die Messer die verglichen wurden. Das Stahlmesser sieht irgendwie nicht so scharf aus, oder?
Tatsächlich, so sieht der Querschnitt des Stahlmessers aus. Zum Vergleich das Holzmesser und eine Rasierklinge.
"Dreimal schärfer" als dieses Buttermesser kommt mir jetzt nicht mehr so besonders vor.
Dann ist da noch das Video. Das ist an den Artikel angehängt und in einigen Medienberichten verlinkt. Hier sieht man ganz klar dass das Messer überhaupt nichts schneidet. An der Stelle hätte auch ein Bleistift das Steak teilen können.
Das Bild wird auch im Originalartikel gezeigt, was ich als Wissenschaftler gelinde gesagt befremdlich finde. Denn es hat null wissenschaftlichen Inhalt und wirkt wie eine Werbung für ein Produkt.
Ein weiteres Problem ist das Öl in das das Messer eingelegt wurde um es wasserbeständig zu machen. Das würde in der Spühlmaschine einfach weggewaschen, denn Öl wegwaschen ist nun mal die Hauptaufgabe einer Spülmaschine.
Ohne Öl dehnt sich das Messer sofort aus wenn es feucht wird, da die Verdichtung nicht feuchtestabil ist. Für ein Messer ziemlich doof und ein Grund, weshalb Holzverdichtung trotz Jahrzenten an Forschung nicht wirklich kommerziell angewandt wird.
Und nachhaltig? Chemikalieneinsatz, energieintensives verdichten, Ölbehandlung...
Da kommt schon einiges zusammen. Keine Ahnung, wie sich das gegen ein Stahlmesser schlägt. Aber die Forscher können es auch nicht wissen, denn untersucht haben sie das nicht. Holz klingt halt grün
Dazu kommen einige methodische Mängel und unsauberes wissenschaftliches Arbeiten, das ich keinem Studenten durchgehen lassen würde (z.B. Kraft in kg)
Was bleibt also?
Ein Stück Grundlagenforschung, in meinen Augen alles andere als innovativ. Aufgepeppt mit einer völlig unrealistischen Anwendung die aber jeder versteht. Plus jede Menge Marketing. Und für mich als Wissenschaftler zwei Fragen:
Wie konnte der Artikel den normalerweise sehr rigiden Auswahlprozess einer renommierten Zeitschrift überstehen?

und

Was sagt es über unseren Wissenschaftsjournalismus aus, dass das überall rumgereicht wird?
Letzteres macht mich wirklich nachdenklich, denn es zeigt, dass die Redaktionen wissenschaftliche Artikel nicht kritisch hinterfragen. Viele Medien haben den originalen Artikel wahscheinlich nicht mal gelesen und sind einer catchy Pressemitteilung der Uni aufgesessen.
Gerade bei Themen der Nachhaltigkeit kann ich mir gut vorstellen, dass solche Meldungen das Gewissen beruhigen. Nach dem Motto: "Cool, bald haben wir Besteck aus Holz. Das ist der technologische Fortschritt der den Klimawandel stoppt."
Wie fundiert sind dann andere Meldungen, bei denen es vielleicht um mehr geht als um ein Stück Holz? Klimawandel, Corona, gesellschaftliche Ungleichheit...
Zu all dem gibt es Forschung, die der Wissenschaftsjournalismus den Menschen erklären muss.
Ich finde, Wissenschaftsjournalismus muss besser funktionieren als das und mehr leisten um die Gesellschaft aufzuklären. Nur eine aufgeklärte Bevölkerung kann die Herausforderungen stemmen, die sich uns stellen.
Achja, Nägel haben sie aus dem Material ich noch gemacht, aber das ist eine Geschichte für ein anderes mal...

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