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2 Dec, 33 tweets, 6 min read
Gestern hat @MayaMitKind einen Space zum Thema "Was trans Personen wirklich wollen" gemacht, zu Aufklärung häufiger Missverständnisse.

Dabei kam es auch zu der Frage: Warum ist Geschlecht für viele so ein großes Ding, wo überhaupt keine Offenheit besteht?

Ein Thread 1/xx
Und zwar geht es hier nicht um trans vs cis Personen - das krasse Festhalten am Zwei-Geschlechter-Modell ist etwas, das cis wie trans Personen gleichermaßen tun.

Nicht umsonst gibt es trans Personen, die massiv binär denken und auf "alle OPs und Maßnahmen" bestehen.

2/xx
Also, warum klammern Menschen sich so sehr an das Zwei-Geschlechter-Modell?

Weil es in unserer Gesellschaft ein grundlegendes Wissen über die Welt ist.

Ich mag das ein wenig erläutern:

3/xx
Die Annahme, dass es exakt zwei Geschlechter gibt, die sich am Körper ablesen lassen und einander gegenseitig anziehend finden, ist, historisch betrachtet, noch nicht so alt.

Ich schreibe hier aus europäischer/US-amerikanischer, nicht indigener Perspektive.

4/xx
Noch vor ein paar Jahrhunderten gab es ein Ein-Geschlecht-Modell, in welchem Frauen einfach die unvollkommene Ausprägung des einen Geschlechts waren.

Männlichkeit konnte sogar im Laufe des Lebens "erlangt" werden.

Also eher ein Schieberegler bei dem weiblich die schwache

5/xx
und männlich die starke Ausprägung von Geschlecht ist.

Dann gab es ein Umdenken und das Zwei-Geschlechter-Modell begann sich zu etablieren.

Und das haben wir bis heute.

Dieses Modell prägt unser Leben, unsere Gesellschaft ganz massiv.

6/xx
Die Kategorien "männlich" und "weiblich" durchtränken wirklich alles - tatsächlich ist "Geschlecht" die Diskriminierungsform, die Kinder als allererstes verinnerlichen.
Es geht ja teilweise schon bei der Zeugung eines Kindes los: da werden unterschiedliche Stellungen

7/xx
für den Sex angeraten, je nachdem ob ein "Junge" oder ein "Mädchen" gewünscht ist (ist natürlich Quatsch, die Genitalien eines Embryos werden nicht durch die Stellung bei der Zeugung bestimmt).
In der Schwangerschaft wird unterschiedlich mit dem Babybauch interagiert

8/xx
Je nachdem welches Geschlecht angenommen wird - schon im Bauch wird mehr mit den Föten gesprochen, bei denen angenommen wird, dass sie Vulven haben, bei denen mit Penis wird dagegen mehr auf die Bewegung geachtet, die die im Bauch machen.
Mädchen plappern, Jungs sind aktiv.

9/xx
Sobald ein Kind zur Welt kommt, wird es an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit den zwei Schubladen, die unsere Gesellschaft für Geschlecht hat, konfrontiert. Der Hashtag #RosaHellblauFalle und natürlich @AlmutSchnerring liefern hier reichlich Anschauungsmaterial.

10/xx
So wird "es gibt zwei Geschlechter und diese finden sich gegenseitig anziehend" tief, sehr tief, in unser Denken darüber, wie die Welt beschaffen ist, eingegraben. Es ist eine Normierung, eine Normalisierung, jeden Tag, immerzu.

11/xx
Für viele Menschen ist das ein ähnlich starkes Wissen über die Welt wie "Schwerkraft existiert" oder "Die Sonne geht jeden Morgen auf" (zumindest in unseren Breitengraden).
Es ist ein Grundwissen, eine tragende Säule, des Wissens über die Welt und ihre Beschaffenheit.

12/xx
So nimmt es nicht Wunder, dass ein Rütteln an dieser Säule, an diesem Wissen über die Welt, am Zwei-Geschlechter-Modell, für viele Menschen etwas Bedrohliches hat.

Wird an diesem Wissen gerüttelt, wer weiß was noch alles mit einstürzt?

13/xx
Menschen brauchen Dinge an denen sie sich festhalten können. Feste Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert. Wer ständig *alles* hinterfragt, lebt in einer sehr unsteten, beängstigenden Welt.

14/xx
Wir gehen davon aus, dass wir nicht vom Boden plötzlich an die Zimmerdecke fallen, weil wir davon ausgehen dass Schwerkraft existiert.
Wir gehen davon aus, dass das was unsere Sinne wahrnehmen, der Wirklichkeit entspricht.

15/xx
Sobald wir das nicht mehr tun (können) fühlen wir uns krank oder berauscht - auf jeden Fall nicht mehr zuverlässig in der Realität verankert.

Auf einem ähnlichen Niveau bewegt sich das Zwei-Geschlechter-Modell als Wissen über die Welt.

16/xx
Dass es binäre trans Personen gibt, die massiv daran festhalten, dass es exakt zwei Geschlechter gibt, die sich am Körper ablesen lassen und die sich selbst als Fehler, der korrigiert werden muss, betrachten, erstaunt vor so einem Hintergrund dann wenig.

17/xx
Und natürlich gibt es Unmengen cis Personen, für die dieses Wissen als absolute unveränderliche Wahrheit gilt.
So kam es dann zu der Unterscheidung von "biologischem" und "sozialen" Geschlecht. Damit diese tragende Säule des Wissens über die Welt nicht ganz kaputt geht.

18/xx
Nun gibt oder gab es aber schon immer Menschen, denen klar ist, oder klar wurde, dass es sich bei diesem Wissen über die Welt gar nicht um eine unveränderliche Realität handelt.
Menschen, die nicht in das Modell gepasst haben und Menschen, denen das Modell nicht passt.

19/xx
Nicht zuletzt gibt es eben auch, auch wenn wir weißen Europäer_innen durch Kolonialisierung und Christianisierung da einiges zerstört haben, viele Kulturen, in denen Geschlecht ganz anders konstruiert ist.

Es gibt neurodivergente Menschen, die die Welt anders begreifen.

20/xx
Es gibt Menschen, deren Neugierde sie immer wieder antreibt, Dinge, die wir über die Welt als gesetzt annehmen, zu hinterfragen.

Und bei genauerer Betrachtung des Zwei-Geschlechter-Modells wird rasch klar, dass es eine sehr wenig stabile Wissenssäule ist.

21/xx
Aber diese Säule aufzugeben, oder auch nur zuzulassen, dass an ihr gerüttelt wird, ist für viele trotzdem schwer.

Und manche Menschen können das nicht zulassen. Es geht nicht. Bei manchen jetzt gerade nicht, bei manchen geht es nie.

22/xx
Darum gucken sie sich dieses Wissen lieber gar nicht genauer an.
Darum blocken sie alles ab, was auch nur an der Oberfläche dieser Säule kratzt.
Damit kann auf zwei Arten umgegangen werden: steter Tropfen höhlt den Stein (Sprichwort) oder radikaler Abriss der Säule (Bild).

23/xx
Letzteres führt aber häufig überhaupt nicht zum gewünschten Effekt.
Dann wird nämlich da, wo die Säule steht, eine Barrikade errichtet (immer noch sprachliches Bild), mit Stacheln gegen die bösen "Gender"-Leute.
Die Angst vor dem wankenden Wissen über die Welt ist zu groß.
24/xx
Ich bin ein schrecklich ungeduldiger Mensch und würde am liebsten mit einer Abrissbirne gegen das Zwei-Geschlechter-Modell vorgehen. Ich weiß aber auch, dass das eben nur dann etwas bringt, wenn ich Menschen vor mir habe, deren Weltbild nicht zusammen bricht,

25/xx
wenn an einer der Säulen, die es tragen, gerüttelt wird.

Je mehr Menschen also anfangen, ihr Wissen über die Welt an der Stelle Geschlecht auf den Prüfstand zu stellen, desto mehr Menschen *können* anfangen, das zu tun, weil es an Bedrohlichkeit verliert.

26/xx
Gerade da, wo die Vorstellungen über Geschlecht absolut verhärtet sind - meist gut erkennbar am Männlichkeitsbild entweder als Ideal oder als absolutes Feindbild, kann gar nicht angesetzt werden.

(Ja, das waren 26½ Tweets um zu sagen: Mit Faschos brauchst du nicht reden.)

27/xx
Wenn wir also Geschlecht neudenken, umdenken und dekonstruieren wollen, brauchen wir Geduld.
Auch wenn das super ätzend und anstrengend und teilweise auch gefährlich und tödlich ist für die Menschen, die unter dem Zwei-Geschlechter-Modell leiden.

28/xx
Ich wünschte es wäre anders. Aber das ist es nicht.

Jedenfalls kam gestern in dem Space die Frage auf, weshalb das mit dem Geschlechterthema auch für einige Linke so ein großes Ding ist, dem sie sich nicht öffnen können.

Es ist einfach ein zu tief verankertes Wissen.

29/xx
Und die Bereitschaft und die Kapazitäten an dieses Wissen ran zu gehen und es auf den Prüfstand zu stellen, die ist in Menschen unterschiedlich groß.

Für einige ist das: woah geil, ich kann was neues lernen!
Für manche: waaah Hilfe, das raubt mir meine Stabilität!

30/xx
Und für die meisten ist es irgendwo dazwischen.

Darum ist es so wichtig, dass dieses Wissen schon an wichtigen Stellschrauben unserer Gesellschaft anders vermittelt wird.

In Kindergärten und Schulen.
In Gynpraxen und Geburtsvorbereitungskursen.

31/xx
Darum ist eine ent-gendernde Tagesschausprecherin super großartig, auch wenn vielleicht nicht alles in der Tagesschau perfekt Geschlecht dekonstruiert hat.

Und ja, das wird alles noch ein bisschen dauern. Geschlechtsmodelle ändern sich nicht von heute auf morgen.

32/32

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