Thread by @ralphruthe

Oft heißt es, Verschwörungserzählungen wären ein Phänomen des Internets. Dabei ist es recht offensichtlich, dass das nicht stimmt. Das Narrativ einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung war zentrales Element der NS-Propaganda. Das wurde damals sogar in Schulen gelehrt. (1/x)

Zur Zeit des Kalten Krieges kursierten auf beiden Seiten allerhand Mythen. In den USA wurden etwa während der McCarty-Ära einige Gewerkschafter als „vom Kreml gesteuert“ diskreditiert. In Polen hieß es später, die Demokratiebewegung Solidarność
würde von Washington gesteuert.

Viele denken, "Flat Earth" (also der Glaube, dass die Erde insgeheim eine Scheibe wäre), sei ein YouTube-Phänomen. Tatsächlich gab es schon im 19. Jahrhundert "Influencer", die Vorträge und Bücher zum Thema publizierten. So wie auch heute berichteten damals einige Medien darüber.

Trotzdem muss man natürlich sagen: Das Netz hat diese Szene verändert. Zunächst einmal: Es gab schon vor Corona ein verschwörungsideologisches Milieu. Dazu gehörten Influencer mit großer Reichweite, Online-Shops, Verlage, Online-Sender, etc.. ein eigenes Ökosystem sozusagen.

Aber ohne Netz war es viel schwieriger hier Anschluss zu finden. Es gab z.B. Zeitschriften über UFOs & Kornkreise - aber die musste man bestellen. Oder es gab Verlage die verschwörungsideologische Inhalte publizierten - doch das war (bis auf Ausnahmen) nicht überall erhältlich.

Online war es plötzlich möglich, sich schnell und unkompliziert mit Gleichgesinnten zu vernetzten, Inhalte zu konsumieren & zu verbreiten. Hinzu kommt: Entscheidungen großer Plattformen können sich massiv auf die Verbreitung verschwörungsideologischer Inhalte auswirken. YouTube..

hatte seinen Vorschlagsalgorithmus etwa darauf hin optimiert, dass Menschen möglichst lange am Bildschirm bleiben. Nun kann es aber sein, dass Anhänger von Influencern, die an eine "große Medienverschwörung" glauben, besonders treue Zuschauer werden. Sie misstrauen irgendwann...

allen anderen Medien und glauben nur noch bei dem jeweiligen Influencer "die Wahrheit" zu finden. Ohne weitere Kontrollsysteme wird ein Algorithmus entsprechende Inhalte wahrscheinlich bevorzugt vorschlagen – Leute die das schauen bleiben schließlich länger am Bildschirm...

Klingt krass? Nun ja, ein Ex-Google Mitarbeiter stellte genau diese These auf und warnte schon vor Jahren, dass der Empfehlungsalgorithmus von YouTube Menschen radikalisiert. Die bekannte amerikanische Techniksoziolgin Zeynep Tufekci schrieb in der New York Times über...

"YouTube, den Großen Radikalisierer". Darin berichtet sie von ihrer Recherche zum US-Wahlkampf. Ihr wurden nämlich systematisch immer radikalere Videos vorgeschlagen. So als würde man davon ausgehen, Menschen bleiben eher dran, wenn es immer krasser wird. nytimes.com/2018/03/10/opi…

Ähnliches lässt sich natürlich auch auf Algorithmen übertragen, die entscheiden, welche Inhalte wir bevorzugt im Feed bei Facebook, Insta oder TikTok zu sehen bekommen. Ihr Aufbau kann beeinflussen, ob bestimmte Inhalte sozusagen einen extra "Boost" bekommen oder nicht.

Trotzdem wäre es falsch zu sagen "Das Internet ist schuld". Damit macht man es sich zu einfach. Das Netz & Plattformen & Messenger wie WhatsApp oder Telegram beeinflussen die Verbreitung solcher Inhalte. Aber Verschwörungserzählungen haben schon vor dem Netz eine Rolle gespielt.

Dieser Thread entstand im Rahmen eines 24h-Takeovers von @kattascha – ganz viel ❤️ fürs möglich machen!