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Jan 26, 2022 31 tweets 5 min read Read on X
Jetzt kommt etwas, womit in meiner Bubble so schnell niemand rechnet: Frau Prien hat mit diesem Satz recht.

Aber anders als sie denkt.
Ein Thread über Ethik und Güterabwägung.

#SichereBildungJetzt #PraesenzpflichtAussetzen #LongCovidKids Image
Tatsächlich steht die Gesundheit nicht über allem, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht in Konkordanz zu den anderen Grundrechten des Grundgesetzes.
Erinnert ihr euch an Findet Nemo? Dorie sagt zu Marlin: „Du kannst doch nicht zulassen, dass ihm nie etwas passiert. Dann passiert ihm doch nie etwas!“. Und absolute Sicherheit kann es bei nichts geben.
In unserem gesamten Leben treffen wir Güterabwägungen. Nur sind wir jetzt in einer neuen Situation. Und da muss die Abwägung anders ausfallen. (Jetzt kommt die angekündigte Metapher!)
Wenn eine Klasse mit dem Bus auf Klassenfahrt fährt, geht man natürlich das Risiko ein, dass z.B. ein Reh vor den Bus läuft, dieser von der Fahrbahn abkommt und die Kinder beim Unfall sterben. Traurig, aber nicht auszuschließen. Güterabwägung.
Was wir momentan machen, ist trotz -40°C Außentemperatur, spiegelglatter Straße und Schneesturms die Kinder in einem klapprigen Bus mit minderwertigen Schneeketten* auf Klassenfahrt zu schicken. Wird schon schief gehen!
„Das Wetter bringt ein Risiko mit sich. Aber der Schulbus ist relativ sicher. Und man darf die Gesundheit nicht absolut vor die Bildung stellen“ heißt es aus der Politik. „Die Kinder brauchen diese Klassenfahrt, wir müssen auch mal an die psychischen Folgen denken!“
Derweil fordern einige Eltern und Politiker*innen, man könne auf die Schneeketten verzichten, weil die Fahrt mit ihnen länger dauert und alles so unangenehm ruckelt. Es reiche, wenn man auf den Wetterbericht gucke. Wenn für die nächsten drei Tage kein Schnee angesagt sei,
kann man sicher fahren. Wenn doch ein von den Meteorolog*innen unentdeckter Schneesturm kommt, ist das halt so.
Stopp. Wahrscheinlich würde das keine Schule mitmachen. Und wenn doch würden die Eltern sagen: „Bestimmt nicht!“

Und Gerichte würden ihnen Recht geben. Weil das Wohl und die Gesundheit der Kinder gefährdet werden.
„Grundsätzlich gilt: Eltern, die für ihr Kind eine besondere Gefährdung auf dem Schulweg durch die Witterungs- und Straßenverhältnisse befürchten, können ihr Kind zu Hause behalten oder es vorzeitig vom Unterricht abholen.“
Das schreibt das Land Schleswig-Holstein zur Eigenverantwortung der Eltern beim täglichen Schulweg der Schüler*innen. Für eine Pandemie scheint das offenbar nicht zu gelten.
Und damit kommen wir zurück zum Anfang: Gesundheit steht nicht ganz klar vor Bildung. Sonst könnten wir nie irgendwas machen. Aber in einer Pandemie ist es nunmal sehr leicht, dass der Gewundheitsschutz sich vor die Bildung stellt. Oder stellen müsste.
Und wer jetzt kommt mit: „Es sterben doch nur voll wenige Kinder“ Ja. Aber:

Wenn es tatsächlich vollkommen zufällig wäre, wer an Corona stirbt und es allen, die nicht sterben, nach kurzer Zeit wieder super gehen würde, müsste man i.S. einer Güterabwägung argumentieren:
„Das sind bedauerliche Einzelschicksale – zufällig und sehr, sehr selten, quasi ein Rauschen in der Statistik. Nicht höher als die Wahrscheinlichkeit, auf dem Schulweg von einem Auto angefahren zu werden!“

Das ist aber aus zwei Gründen völliger Bullshit:
1) „Genesen“ ist nicht genesen. Long Covid, Neuro Covid, ME/CFS. Will ich nicht länger drauf eingehen. Forschung ist sich einig, dass es das gibt. Auch bei Kindern. Studien tw. schwierig wg. fehlender Vergleichsgruppe. Aber am Ende auch egal*, ob 1% oder 10% der Fälle:
Bei Durchseuchung sind das VIEL zu viele!

*außer für die 9% Differenz natürlich.

Außerdem gilt weiterhin:
„The absence of evidence isn’t the evidence of absence“ und dass Omikron zu wenig erforscht ist, als dass man es durch die Bevölkerung wandern lassen könnte.
2) Die Verteilung der Toten ist nicht zufällig.

Wenn es zufällig sehr sehr wenige trifft, ist das für diejenigen „blöd“, aber in unserer Güterabwägung nehmen wir diese wenigen Toten in Kauf*. Ähnlich wie es bei nichts die 100%ige Sicherheit gibt. Nur weil wir in Kauf nehmen,
dass ein Reh vor den Schulbus rennen könnte-te-te, ist das noch kein Sozialdarwinismus.

Da Covid aber kein Autounfall, sondern ein Virus ist, gibt es klare Risikogruppen. Wenn wir da in Kauf nehmen, dass einige wenige nunmal daran sterben, ist das Sozialdarwinismus.
Denn: Sie erhalten schon im Voraus ein Label: „Deinen Tod nehmen wir eher in Kauf als den anderer Menschen“. Dadurch unterteilen wir in lebenswertes und weniger lebenswertes Leben. Menschen opfern sich nicht selbst für die Mehrheit, sie werden von der Mehrheit geopfert.
Und nein, weder wäre es sozial, sie durch „Absondern“ von der Allgemeinheit zu schützen, noch wäre es machbar, so wie man das Virus durch alle Bevölkerungsgruppen rasen lässt. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Umsetzung inklusiver Bildung. Just saying.
*das klappt zudem deswegen nicht, weil die Kinder ja auch Risikogruppenkontakte wie Großeltern etc. haben.
Es ist erschreckend, wie das Instrument der Güterabwägung in Extremsituationen wie Pandemien ad absurdum geführt wird. Natürlich hat Frau Prien mit ihrer Aussage recht. Ihre Schlussfolgerung, die sie zieht, ist aber abgrundtief falsch.
Zwei Hausaufgaben:

1) Angenommen es gäbe bei Covid nur tot und genesen im Sinne von „alles wie zuvor“. Und angenommen, es wäre ein gleichverteiltes Sterberisiko für alle. Welche Tödlichkeit würden wir im Rahmen einer Güterabwägung eingehen?
Welche Maßnahmen würden wir bei welcher gleichverteilter Gefährlichkeit trotzdem eingehen, um unnötige Tode zu vermeiden? Testungen vor großen Zusammenkünften analog zum Gurt im Auto? Maskenpflicht ab welcher Tödlichkeit nicht mehr?
2) Nicht nur Covid kann für Risikogruppen tödlich enden. Alte Menschen, Pers. mit Autoimmunerkrankrung, usw. können auch von der Grippe hart getroffen werden (kein Grippevergleich an dieser Stelle!).

Trotzdem haben wir diese höhere Gefährlichkeit für sie bisher in Kauf
genommen. Was nehmen wir also mit aus dieser Pandemie? Wie wollen wir auch bei Grippe Risikogruppen schützen? Letzen Endes haben wir an dieser Stelle schon immer sozialdarwinistisch gedacht: Die alte Dame ist 80, da kannste nix machen.
Und klar. Das lässt sich endlos fortsetzen: Arme Leute sterben früher. Medizinische Forschung zu sehr am Mann orientiert. Kapitalismuskritik hier einsetzen. Wie wollen wir in Zukunft unsere Gesellschaft auch abseits von Covid weniger sozialdarwinistisch gestalten?
Diese beiden Hausaufgaben schreibe ich hier nicht rein, um Covid zu verharmlosen („machen wir doch anderswo auch so“). Diese Pandemie ist ein Extremfall. Auch wenn wir sagen würden: so ein bisschen Sozialdarwinismus bei Grippe ist ok und die 100%ige Sicherheit gibt es nirgendwo!
Covid IST um Größenordnungen problematischer.

Die Frage ist nur: wie wollen wir in Zukunft mit anderen Situationen umgehen, in denen wir vor den gleichen moralischen Dilemmata stehen, nur eben weniger extrem?
Disclaimer: Der Tweet von Karin Prien ist von vor knapp einem Jahr. Aber sie zieht das ja nach wie vor so durch.

Da der damals durchaus durch Twitter gegeistert ist, gehe ich davon aus, dass das bekannt ist. Bevor aber jemand meckert, ich würde dekontextualisieren…

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Ja, Drosten hat sehr gute Kommunikation betrieben, während Streeck und Co im ersten Pandemiewinter à la GBD durchseuchen wollten und Risikogruppen „irgendwie“ isolieren wollten. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.
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Man weiß also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind infiziert ist. Wenn aber alle Schnelltest-negativ sind, wird weiter unterrichtet. Obwohl alle wissen, dass
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Das nennt man dann Sozialdarwinismus, aber das wollt ihr natürlich nicht wahrhaben.

Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen, die mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben werden. Long Covid. Neuro Covid. Call it what you want, ihr leugnet ja eh, dass es das gibt.
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