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Feb 16 35 tweets 5 min read
Wladimir Putin spricht also vom Genozid im Donbas, russische Staatsmedien erzählen von „Lagern“ - aber von wem ist überhaupt die Rede?

Da fängt das Problem schon an. Ein langer Thread. Los geht’s. (1/x)
Geht’s um die Russen im Donbass oder um die Russischsprachigen? Ein wichtiger Unterschied, den der Kreml selbst verwischen will: (2/x)
Der Donbass ist keineswegs mehrheitlich russisch; es gibt einen beachtlichen Anteil an ethnischen Russen, aber sie sind in der Minderheit. Der Donbas ist sehr spezifisch für die Ukraine, wie Professorin Tanja Penter schreibt . (3/x)
Doch seit dem Kriegsbeginn 2014 hat Moskau versucht, eine neue Realität zu schaffen. Vor allem in den letzten zwei Jahren hat es - nach Angaben des Kremls - rund eine Million russischer Pässe im Donbass verteilt. (4/x)
Oft ist aber von russischsprachig die Rede - 2014 ermittelte das russische Ermittlungskomitee wegen „Genozid an den Russischsprachigen“. Immer wieder hieß es in den russischen Staatsmedien, wer russisch spreche, würde bedroht, ausgerottet, in Lager gesperrt. (5/x)
Das ist seit 2014 das Narrativ des Kremls. Und es ist eine Lüge. Es gab und gibt im Donbass keinen Genozid oder Ähnliches gegen Russischsprachige. (5/x)
Mehr noch: Nicht nur im Donbass ist Russsisch weit verbreitet. Auch in Kiew wurde und wird überwiegend Russisch gesprochen. (6/x)
Es stimmt, dass im Donbas Russisch weit verbreitet ist. Doch vorsicht! Noch weiter verbreitet ist das „Surzhyk“, eine Mischform aus Ukrainisch/Russisch. Wie Schlesisch in Polen oder Trassjanka in Belarus. Das sind Eigenheiten von Grenzregionen: sprachliche Mischformen. (6/x)
Ich erinnere mich, als ich 2014 durch ein zerschossenes Dorf nahe der russischen Grenze fuhr. Ich traf drei Babuschkas, die ihr leid klagten - und zwar auf Ukrainisch, im tiefsten Donbass. Ukrainisch ist noch heute oft die Sprache der Dörfer. (7/x)
Heute spielt die Sprache tatsächlich eine politische Rolle - das tat sie bis 2014 kaum, der Kreml hat sie dazu gemacht. Seither ist in Kiew mehr Ukrainisch zu hören. Ein bisschen verhält es sich wie mit der NATO: Der Kreml sorgt dafür, dass es zum Thema wird (8/x).
Wer meint, Nationalisten wenden sich dem Ukrainischen zu, irrt. Ich erinnere mich an eine Bekannte, jung, links, LGBTQ, Akademikerin, für deren Identität es wichtig war, Ukrainisch zu sprechen - ihre gesamte Familie aber sprach Russisch. (9/x)
Umgekehrt war der Sprecher der rechtsextremen Organisation „Rechter Sektor“ ein Russe und sprach nur Russisch. Ja, es ist kompliziert. (10/x)
Russischsprachige wurden in der Ukraine nicht unterdrückt. Aber 2019 kam dann tatsächlich ein Sprachengesetz, eiligst durchgepeitscht im Wahlkampf von Poroschenkos Partei. (11/x)
Das Gesetz ist problematisch, weil Sprachen von Minderheiten - Russisch, aber auch Polnisch und Ungarisch zB - schlechter gestellt werden. Dazu: hrw.org/news/2022/01/1… (12/x)
Poroschenko hatte einen Wahlkampf um Nationalismus gemacht, um die Schlüsselwörter Glaube, Sprache, Armee. Er verlor. (13/x)
Es gewann Wolodymyr Selenskyj.
Präsident Selenskyj stammt aus Krywyj Ryh - und musste erst Ukrainisch lernen, als er Präsident wurde. Oder Julia Tymoschenko, die aus dem Osten kommt, oder Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew: Sie alle sprachen kein Ukrainisch. (14/x)
Selenskyj wollte nach seiner Wahl sogar einen russischsprachigen Informationssender schaffen, um die Menschen im Donbas zu erreichen. (15/x)
Putins Gerede vom „Genozid“ ist Propaganda, eine Lüge. Von Beginn an. Eine Anekdote: Als ich Anfang März 2014 in Donezk war, noch bevor der Krieg anfing, traf ich lauter junge UkrainerInnen, die da schon Pfefferspray mit sich trugen, weil sie bedroht wurden. (16/x)
Auf einer proukrainischen Demo in Donezk kurz darauf wurden die friedlichen Demonstrierenden eingekesselt und mit Flaschen beworfen. (17/x)
Die Menschen in den besetzten Gebieten des Donbas brauchen tatsächlich Schutz. Wer proukrainisch war, musste fliehen. Schon 2014 hat der Russe Igor Girkin Exekutionsbefehle unterschrieben. (18/x)
Man muss es so sagen: Unschuldige wurden hingerichtet. Girkin läuft unbehelligt in Moskau herum, lief mir mal über den Weg. Er muss sich für nichts verantworten, obwohl er mitten in einem Wohngebiet in Slawjansk die ersten Kriegshandlungen begann. (19/x)
Seither hat sich die Situation in den sogenannten „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk dramatisch verschlimmert. Menschen werden willkürlich festgenommen, verschleppt, auf Jahre eingesperrt und gefoltert. (20/x)
Human Rights Watch und andere haben das dokumentiert. Dafür reicht, dass jemand - willkürlich - der Spionage verdächtigt wird. (21/x)
Ein Beispiel: die Frau Irina Dovgan. Auch sie galt plötzlich als Spionin; wurde an einen Laternenpfahl gefesselt mit einem Schild: „Sie tötet unsere Kinder. Sie ist eine Agentin der Bestrafer“. Sie kam später frei - wohl auch dank des Fotos, vermute ich. (22/x)
Oder der Journalist Stanislaw Assjejew. Er wurde 28 Monate lang festgehalten und gefoltert in einem der berüchtigten Kerker in Donezk festgehalten. Die Folter, die er überlebt hat, hat er in einem Buch festgehalten und verarbeitet, das vor wenige Monaten erschien. (23/x)
Das Buch heißt „Heller Weg - Geschichte eines Konzentrationslagers Donbass 2017-2019.“ Es ist ein fürchterliches, eindrückliches und wichtiges Zeugnis dessen, was in diesen selbsternannten „Volksrepubliken“ geschieht. (24/x)

deutschlandfunk.de/ein-zeugnis-ab…
Man muss von einem neostalinistischem, rechtsfreien Raum in den besetzen Gebieten sprechen, wo Banditen das Sagen haben. Und darüber wird gar nicht geredet dieser Tage. Es wird kaum hingesehen - wie auch. JournalistInnen dürfen nur noch selten hin und werden überwacht. (25/x).
Es gibt keine proukrainische Stimmen mehr aus den besetzten Gebieten, weil sie entweder zum verstummen gebracht wurden oder geflohen sind. Fast anderthalb Millionen sind Binnenflüchtlinge, rund eine Million ist nach Russlands geflohen. (26/x)
Und die ukrainische Seite? Hat sich vieles zuschulden kommen lassen. Hat 2014 Wohngebiete beschossen, (weil sich Separatisten dort versteckten - ich habe gesehen, wie sie in einem zivilen Bunker Unterschlupf suchten oder einen Krankenwagen als Transport für Waffen nutzten).(27/x)
Es bleibt aber ein Verbrechen. Ukrainische Kampfverbände haben Zivilbevölkerung terrorisiert, gefoltert. Bewohner der „grauen Zone“ - Niemandsland zwischen den Fronten - erzählten mit Angst vom ukrainischen Asow-Bataillon. Die Kämpfer mussten sich nicht verantworten. (28/x)
Aber es gibt einen großen Unterschied: die Ukrainer haben nie behauptet, einen Genozid zu verhindern. Sie haben diesen Krieg im Donbas nicht begonnen - das war Russland mithilfe einiger lokalen Kräfte. (29/x)
Das Gerede in Moskau vom Schutz der Russischsprachigen ist eine Farce. Fallt nicht drauf rein. Durch diesen Krieg wird niemand geschützt, aber fast 14 000 Menschen haben ihr Leben verloren, Millionen haben darunter zu leiden. (30/x)
Wer es ganz genau wissen will, was in der Ostukraine los ist, dem empfehle ich die Berichte der UN, zB ohchr.org/Documents/Coun…

(31/ENDE (Uff.))
Sorry für den abgerissenen Thread, hier geht’s weiter:
*lokaler

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