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May 3 36 tweets 14 min read
Zum heutigen Welttag der #Pressefreiheit meldet @ReporterOG, dass es in Deutschland wegen einer Rekordzahl von Angriffen auf @journalist*innen erneut im weltweiten Ranking abrutscht.

Was wir tun und was wir uns wünschen: Ein Thread.

Politisch motivierte Gewalt gegen Journalist*innen nimmt massiv zu. Das gilt für die Anzahl und Intensität der Vorfälle, für die Breite des Täter*innenpektrums und die Vorgehensweisen.
Between The Lines stellt freien Journalist*innen ehrenamtliche Begleiter*innen zur Seite, die sie vor Angriffen schützen.
BTL-Teams sind jede Woche mehrfach unterwegs. Mehr als 80% unserer Begleiter*innen haben Schläge, Tritte, Rempler, Bewurf, o.ä. Gewalt erlebt. In mehreren Fällen mussten BTL-Begleiter*innen Notwehr anwenden, wie bspw. bei #dd1302

In #dd1302 #Laubegast wurden 6 Journalist*innen über hunderte Meter verfolgt und immer wieder angegriffen. Wegen der erfolgreichen Abwehr der Angriffe kam es nur zu leichteren Verletzungen, jedoch halten die rechtlichen und psychologischen Folgen an.

Screenshot von der Antwort ...
Trotz zahlreicher, zum Teil brutaler Angriffe konnten BTL-Begleitschützer*innen schwere Verletzungen verhindern und Berichterstattung ermöglichen.

BTL wirkt dabei nur gegen Symptome zunehmender, auch von Ministerpräsidenten genährter Pressefeindlichkeit.

Aus unserer Sicht ist die aktuelle Form von Angriffen auf Journalist*innen ein sich entwickelndes und ausbreitendes Phänomen, dem auch Sicherheitsbehörden aktiv und lernend entgegentreten müssen. Wir bieten allen an, an den Erfahrungen von BTL bei dieser Aufgabe teilzuhaben.
Unsere folgenden Aussagen beruhen auf eigenen Lagebildern und der Informationssammlung im Vorfeld, auf Beobachtungen und Erfahrungen vor Ort, auf Nachbereitung und Auswertung der Äußerungen/Social Media-Kanäle des Angreifer*innenspektrums.

Quelle: saechsische.de/coronavirus/vu… Image
Die meisten Angriffe gibt es auf verschwörungsideologischen Versammlungen. Sie sind

1. erwartbar
2. folgen einer "Zielkaskade",
3. kündigen sich zu Beginn an,
4. es gibt deutliche Hinweise,
5. Polizeihandeln kann Eskalationen verhindern.

1. Erwartbarkeit:

Neben Polizei und Gegenprotest sind Journalist*innen das dritte Hauptfeindbild auf verschwörungsid. Versammlungen. Oft konzentriert sich der die Ablehnung je nach Anlass auf eine dieser Gruppen. Aber: Ist Presse vor Ort, wird sie wahrscheinlich (mit) zum Ziel.
Wir schreiben und sagen immer wieder, dass das Verhalten der Journos dabei egal ist: Nah dran "provoziert" genauso wie weit weg mit Teleobjektiv. Berichterstatter*innen werden unterschiedslos voller Eifer mit wechselnden Vorwürfen zum Feind stilisiert.

2. Zielkaskade:

Es gibt besonders stark angefeindete Journos. Diese werden in Sprechchören namentlich herabgewürdigt und immer wieder gezielt angegriffen. Während alle Aufmerksamkeit auf sie gelenkt ist, bleiben andere Journalist*innen solange verschont.

Zynisch kann man sagen: Sie sind Blitzableiter, die andere Journalist*innen vor dem Einschlag schützen.

Auch "neutrale" Akteure sollten sich darüber klar sein, dass sie bestimmte Journalist*innen gefährden, wenn sie dieses Narrativ übernehmen.

Einige Berichte, wie der des @ECPMF schaffen da eher Unklarheit, wenn angemerkt wird, dass viele Meldungen wenige Menschen betreffen. Auch das liegt nicht an diesen persönlich. Wären sie nicht vor Ort gewesen, hätte die Gewalt andere erwischt.

Dass es Angriffe gibt, liegt an den Angreifer*innen, nicht an der politischen Selbstverortung der Berichterstattenden. Diese kann lediglich zu einer "Feindhierarchie" führen, die abgearbeitet wird. Oben landen weiblich, jung und/oder "links" gelesene, oft ohne Redaktionsvertrag.
3. Ankündigung:

Oft merkt man schon zu Beginn einer Versammlung, wie schlimm es wird. Spätere Angreifer wollen vorher schon einschüchtern, markieren, abfilmen, rempeln. Oder sie beobachten sehr interessiert, was passiert, wenn andere das tun.

Wir haben nie erlebt, dass Aggression im Laufe einer Versammlung nachgelassen hat. Die ersten Minuten sind die Baseline für den gesamten Verlauf. Diese Baseline kann sofort beim Eintreffen der Journalist*innen bei tätlichen Angriffen liegen.

4. Hinweise:

Insbesondere bei schweren und schwersten Angriffen sehen wir immer wieder typische Verhaltensweisen. Dazu zählt insbesondere die Vermummung (oder der Versuch sich rückwärts oder von außerhalb der Kameraperspektive zu nähern.)

Aber auch die Annäherung durch oder Sammlung von Personen, die sich mit Handschuhen, Schlaghandschuhen, Glasflaschen, Fahnenstangen oder ähnlichem bewaffnet haben.

5. Notwendiges Polizeihandeln:

Radikalisierte Angreifer erzeugen die Gewalt. Die bundesweit sichtbaren Angriffe belegen den Trend. Die Polizei muss sich an das neue Problemfeld anpassen. Zusätzlich zum bereits bekannten gezielten Auflauern durch organisierte extreme Rechte.
Wir glauben, dass bei erkennbaren Hinweisen frühzeitige klare Ansagen durch Polizeikräfte die spätere Eskalation vorbeugend abschrecken kann. Das wäre eine Neuerung in der Gefahrenabwehr, weil diese Verhaltensweisen üblicherweise unterhalb der Eingreifschwelle der Polizei liegen. Demoteilnehmer markiert Jou...
Aber gerade weil die Angriffe erwartbar sind, die Ziele der Angriffe vorhersehbar, die Hinweise sichtbar, sollte hier eine frühe Ansprache stattfinden. Das ist ein Lernprozess, den wir im Schnelldurchlauf gemacht haben, weil wir sehr spezialisiert sind.
Polizeikräfte in Sachsen sind da auf ganz unterschiedlichem Stand, aber im Bundesvergleich weit vorn mit dabei. Einige Polizeien haben noch nicht gemerkt, dass es auch bei ihnen ein Problem ist, was eine dramatische Fehleinschätzung sein dürfte.

Es gibt aktuell vier erkennbare polizeiliche Herangehensweisen:

1. Gar nichts an der Einsatztaktik ändern
2. Medienschutzzonen
3. Medienschutzteams/Begleitung
4. erhöhte Sensibilisierung

Aus der "ersten Reihe" beurteilen wir diese sehr unterschiedlich.

Gar nicht auf die gestiegene Bedrohung und Gefährdung von Journalist*innen einzugehen, ist grob fahrlässig und verschlimmert die Lage. Insbesondere, wenn dadurch Polizist*innen zu Helfern von Grundrechtsfeinden werden.

Medienschutzzonen schränken die Berichterstattung im Ergebnis stark ein, indem die Journalist*innen quasi in ein Gehege gesteckt werden. Das ist gut gemeint, aber funktioniert höchstens für Kamerateams, die nur O-Töne einfangen.
Medienschutzteams und Medienbegleitteams wirken. Gleichzeitig schränken sie insbesondere Fotojournalist*innen kaum ein. Interviews dagegen sind schwierig und die Journalist*innen kommen sich oft "embedded" und eingeschränkt vor.
Gleichzeitig binden sie viele Polizeikräfte, insbesondere, wenn sie flächendeckend und/oder für viele getrennt arbeitende Journalist*innen verfügbar sein sollen. So können sie die Tür für Übergriffe auf andere Journalist*innen öffnen.
Mit einer insgesamt höheren Sensibilisierung und bei Bedarf und konkreten Hinweisen enger werdenden Begleitung durch die sowieso eingesetzten Polizist*innen haben wir die besten Erfahrungen gemacht. Das Gegenargument, dass hier auch Kräfte gebunden werden,...
... trifft erfahrungsgemäß nicht. Spitzt sich die Eskalation auf Journalist*innen zu, so sind diese oft der einzige Punkt, wo in diesem Moment Polizeikräfte notwendig sind. Versammlungsteilnehmer*innen suchen sich nicht plötzlich neue Ziele.

Ein solches Vorgehen ermöglicht auch eine proaktive und klare Ansprache durch "neutrale" Polizist*innen (also nicht Medienschutz, der "dazugehört"), die von einer weiteren Eskalation früh abschrecken kann. Dazu müssen Warnhinweise gekannt und erkannt werden.
Einsatzkräfte müssen auch sonst für sie unwichtige Zeichen lesen können, sie müssen die Gefährdungslage der Presse kennen, und auch bürgerlich auftretende Aggressoren "sehen". Auf verrohte bürgerliche Teilnehmer, die sich reinsteigern, wirken frühe deutliche Ansprachen.
Trotzdem: Das Problem ist die Radikalisierung der Angreifer*innen. Polizeiliche Maßnahmen können dort nur ein Pflaster sein. Entscheidend bleiben langfristige Strategien und eine Beteiligung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen Verschwörungsideologien.

stern.de/gesellschaft/g…
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