Unter dem Hashtag #MenToo wird aktuell über Gewalt in Partnerschaften gesprochen, in diesem Fall mit dem Fokus auf männliche Opfer. Zu diesem Thema möchte ich gerne drei Punkte beitragen, die in der Öffentlichkeit für mein Empfinden zu wenig Raum bekommen, natürlich mit Daten. |1
2| Punkt 1: Die stereotype Darstellung von häuslicher Gewalt als primär männlichem Verhalten mit weiblichen Opfern ist nicht mit der wissenschaftlichen Evidenz vereinbar. Zahlreiche Studien zeigen, dass es *insgesamt* keinen großen Gender Gap auf Täterseite gibt (z.B. Q1).
3| Eine Studie fragt Männer und Frauen direkt und berichtet, dass sogar signifikant mehr Frauen als Männer angeben, psychische oder physische Gewalt gegen Partner oder Familienangehörige ausgeübt zu haben (Bild, Q2). Darauf unter #MenToo aufmerksam zu machen, finde ich völlig OK.
4| Punkt 2: Der Blick auf die Geschlechterverteilung bei partnerschaftlicher Gewalt *insgesamt* ist irreführend. Wir finden nämlich drastische Geschlechterunterschiede, wenn wir uns Art und Ausmaß von Gewalt ansehen. Dazu habe ich Daten einer großen Meta-Analyse mitgebracht (Q3).
5| Die Liste zeigt Geschlechterunterschiede bei verschiedenen Gewaltformen (Effektstärke d). Negative Zahlen bedeuten: Das Verhalten ist bei Frauen häufiger. Positive Zahlen zeigen eine stärkere Ausprägung bei Männern. Von oben: Bei verbaler Gewalt dominieren Frauen mit d=-0,25.
6| Kleine Interpretationshilfe: Ein d von -0,25 bedeutet: Wenn Sie tippen würden, dass ein unbekannter Täter einer verbalen Gewalttat in der Partnerschaft eine Frau ist, lägen sie in ca. 56 % der Fälle richtig. Ein kleiner Unterschied also, aber trotzdem ein Unterschied.
7| Je weiter runter wir aber auf der Liste gehen und je brutaler die Form der Gewalt wird, desto weiter öffnet sich die Schere und männliche Täter dominieren. Auch hier finden wir noch ein Gleichgewicht bei physischer Gewalt insgesamt ("any"), aber danach wird es einseitig.
8| Bei schwerer physischer Gewalt sind wir schon bei einem Gender Gap von rund 60%/40% männlicher/weiblicher Täter (d=0,42), bei Tötungen im Bereich 80%/20% (d=1,06) und bei Vergewaltigungen sind mehr als 90% der Täter Männer. Von einem Gleichgewicht kann hier keine Rede sein.
9| Der Punkt ist: Wenn wir uns partnerschaftliche Gewalt auf der Ebene von Tätergruppen ansehen, dann ergeben die Gesamtzahlen eine Art "false balance". Männer und Frauen sind Täter, aber bei der wirklich drastischen körperlichen Gewalt sind die Täter weit überwiegend männlich.
10| Punkt 3: Die Debatte wird dominiert von der Perspektive, die auch dieser Thread einnimmt: quantitativ auf Gruppenebene, quasi aus der sozialen Vogelperspektive. Ich halte das für eine Sackgasse in punkto Mehrwert. Der bessere Fokus wäre die individuelle Opferperspektive.
11| Aus dieser Sicht ist festzuhalten: Männliche Opfer leiden nicht weniger unter ihrer Gewalterfahrung, nur weil andere Männer gesamtgesellschaftlich häufiger Täter schwerer Gewalttaten sind. Welchen Einfluss auf unsere Unterstützung und Empathie soll das haben? Antwort: keinen.

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May 3
"Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand", warnten schon die alten Römer. Und auch moderne quantitative Studien suggerieren, dass Ergebnisse vor Gericht von allem Möglichen beeinflusst werden, nicht bloß von der Rechtslage und den kalten Fakten. 🧵 mit Studien |1
2| Beispiel: Attraktivität ist zwar nicht de jure, aber de facto ein mildernder Umstand. In einem Experiment erhielten attraktive Beschuldigte für dieselbe (fiktive) Straftat im Schnitt 9,7 Jahre Haft, die Nicht-so-Attraktiven 14,7 Jahre, erstaunliche 5 Jahre mehr (Q1).
3| Ähnlich, wenn auch weniger drastisch ist es beim Geschlecht. Auch Frausein wirkt als mildernder Umstand. Im Experiment wandern Frauen im Schnitt 11 Jahre ein, knapp 20 % weniger als Männer für dieselbe Tat. Angehörige ethnischer Mehrheiten erhalten ebenfalls einen Bonus (Q1). Image
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May 2
Heute war einer dieser Arbeitstage, die für Vieles entschädigen. Davon möchte ich gerne erzählen:

Es gibt da diesen aufgeweckten jungen Mann, mit dem ich einige Jahre lang gearbeitet hatte. Er brauchte Unterstützung bei seiner Ausbildung. Da war alles sehr prekär, denn ... |1
2| ... mit seiner psychischen Gesundheit und Belastbarkeit war es nicht weit her. Die Ausbildung musste er wegen einer Angststörung abbrechen. Wir haben ihm eine neue gesucht. Auch die hat er abgebrochen, weil es nicht mehr ging. Zu viel Druck. Dann war er erstmal in der Klinik.
3| Ich fand das frustrierend, weil ich sicher war, dass er einem Team viel zu geben hat, wenn er Vorgesetzte findet, die verstehen, was er kann und was zu viel ist, die ihn langsam reinholen und ihm Zeit geben, in seinem Tempo zu wachsen. Dann kam ein kleiner Zufall zur Hilfe.
Read 5 tweets
Apr 21
Ich möchte nochmal etwas zu solchen Grafiken sagen, die zeigen sollen, wie sehr der Bildungserfolg in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt. Meines Erachtens liegt da regelmäßig ein größeres Missverständnis vor, auch in den Qualitätsmedien. Ein Erklärungsversuch. 🧵 |1
2| Rein deskriptiv zeigt uns so ein Schaubild, dass ein viel größerer Anteil von Kindern aus Akademikerhaushalten Abitur macht und dann studiert als Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten. Das ist unstreitig. Die Frage ist: Warum ist das so? Und was bedeutet es?
3| Die Standarderklärung ist soziologisch: Die Unterschiede resultieren vor allem aus dem familiären Umfeld. Kinder mit mehr Förderung und Ressourcen haben bessere Chancen. Deshalb vererbt sich Bildungserfolg über Generationen hinweg. So in etwa liest man das ständig irgendwo.
Read 19 tweets
Apr 20
Es gibt Leute, die sagen, sie könnten vor ihrem geistigen Auge nichts sehen. Afantasie heißt die Unfähigkeit, mentale Bilder zu erzeugen. Bisher war nie so ganz klar, ob es das Phänomen wirklich gibt. Wie soll man das messen? Eine neue Studie findet eine extrem smarte Lösung. |1
2| Die Forscher nutzen dazu einen kuriosen Aspekt unserer Physiologie: Unsere Pupillen weiten sich oder kontrahieren bekannterweise automatisch je nach äußeren Lichtverhältnissen. Dasselbe passiert aber auch, wenn es sich gar nicht um echtes, sondern um imaginäres Licht handelt.
3| Zeigt man Leuten z.B. ein Graustufenbild der Sonne oder liest ihnen Worte vor, die mit hellem Licht assoziiert sind, reagieren die Pupillen auf dieselbe Weise. Oder auch – und diesen Umstand macht sich die neue Studie zunutze – wenn man sich die Helligkeit einfach vorstellt.
Read 5 tweets
Apr 16
Für ein berufliches Projekt lese ich aktuell dutzende Studien zur Frage, welche Gruppen bei der Jobsuche benachteiligt sind. Wie so oft fördert der Blick hinter Schlagzeilen und Twitter-Wahrheiten wieder Unerwartetes zutage. In diesem Fall über Männer und Frauen. 🧵 mit Daten |1
2| Benachteiligung heißt hier, dass ein Merkmal bei ansonsten identischer Bewerbung die Chance auf eine positive Antwort senkt. Erforscht wird das i.d.R. experimentell: Man variiert fiktive Lebensläufe nach Merkmal, reicht sie für echte Jobs ein und wertet die Rückmeldungen aus.
3| Bei manchen Merkmalen ist die Datenlage ziemlich einheitlich. Eine aktuelle Meta-Analyse über 306 Experimente dieser Art weltweit findet, dass die folgenden persönlichen Merkmale konsistent zu einem deutlichen Rückgang der positiven Reaktionen von Arbeitgebern führen (Q1):
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Mar 26
Heute Nacht wird auf Sommerzeit umgestellt, wir verlieren eine Stunde Schlaf. Keine große Sache, sollte man meinen, aber die Daten sagen durchaus etwas Anderes. Ergebnisse aus drei Studien kurz präsentiert. 🧵 |1
2| Eine Langzeitstudie aus Spanien ergibt, dass am Tag der Sommerzeitumstellung das relative Risiko, einen tödlichen Autounfall zu erleiden, um rund 30 % höher liegt als im Jahresdurchschnitt (Q1).
3| Mehrere Studien stellen für die Tage nach der Sommerzeitumstellung ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle fest. Eine Studie in den USA errechnet für den Montag nach der Umstellung ein um 24 % höheres Aufkommen von Herzinfarkten, primär bei Risikopatienten (Q2).
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