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Jun 2 26 tweets 10 min read
Dass in Paris gestreikt wird, ist normalerweise – Vorsicht, Cliché! – keinen Tweet wert. Allerdings streiken heute Beamte und Angestellte des 🇫🇷 Außenministeriums am #QuaidOrsay. Und weil es das in der Vergangenheit erst zwei Mal gegeben hat, ist es einen langen Thread wert 1/20
Unter dem Hashtag #diplo2metier haben sich in den vergangenen Tagen viele aktive und Karrierediplomaten a.D. auf Twitter geäußert, sich mit dem Streik solidarisiert und erklärt, warum die Reform, an der sich der Protest entzündet, aus ihrer Sicht falsch bzw. gefährlich ist. 2/20
Unterstützt wird der Protest von Diplomaten in Paris und in den Vertretungen weltweit. Immerhin rund 10 Botschafter wollen streiken, ein einmaliger Vorgang. 500 Diplomaten und Angestellte des Quai haben im Mai einen Aufruf in @LeMonde veröffentlicht: lemonde.fr/idees/article/… 3/20
Worum geht es im Kern? Die Reform verändert den „klassischen“ Karriereweg von #Spitzendiplomaten, macht ihn weniger exklusiv. Ziel der Reform ist es, die FR Diplomatie, oft als korporatistisch kritisiert, zu öffnen (für Interessierte hier zum Dekret: legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTE…) 4/20
Dem Quai wird seit langem vorgeworfen, überkommene Traditionen zu pflegen, sich neuen Praktiken und Profilen zu verschließen und die Modernisierung der #Diplomatie zu bremsen. Ein Vorwurf, der aber nicht nur das #Außenministerium trifft, sondern den gesamten Staatsapparat. 5/20
Dass es nun zum Streik kommt, hat mehrere Gründe. Viele Diplomaten empfanden bereits die Form der Ankündigung der Reform durch die Regierung als Affront. Das entsprechende Dekret wurde am Osterwochenende veröffentlicht, zwischen den zwei Runden der #Präsidentschaftswahl. 6/20
Auch mit viel Wohlwollen fällt es schwer, hier keine Taktik zu unterstellen und den Versuch, den Raum für Proteste, mediale Berichterstattung und mögliche öffentliche Debatten so klein wie möglich zu halten. Die Reform, so wirkt es, soll still und leise über die Bühne gehen. 7/20
Auf viel Wohlwollen kann der Präsident im Quai aber nicht hoffen. Seitdem er in einer Rede an die Botschafter im August 2019 die eigene Diplomatie scharf angriff und von einem "Deep State" sprach, hat E. Macron bei den Diplomaten einen schweren Stand: elysee.fr/emmanuel-macro… 8/20
Wie bei der Reform der #ENA (jetzt @INSP_Fr) vermuten viele Spitzenbeamte auch jetzt, dass der Staatschef mit der Abschaffung exklusiver Karrieren für Diplomaten ein Signal sendet. Ein zweiter Grund für den Streik: Die Verwaltung droht, als Sündenbock der Politik zu enden. 9/20
Als wichtigsten Grund für den Protest nennen viele der ca. 800 betroffenen Diplomaten das Misstrauen, das sich in der Reform ausdrückt und mangelnde Wertschätzung für ihren Einsatz in einem Beruf, der zwar viele Privilegien, aber auch viele Einschränkungen mit sich bringt. 10/20
Zukünftig konkurrieren Diplomaten mit Spitzenbeamten aller Ministerien. Wie schon durch die ENA-Reform soll die Mobilität innerhalb der Verwaltung erhöht werden. Aber kann ein Büroleiter des Innenministeriums neben einem Team auch erfolgreich eine Verhandlung führen? 11/20
Schließlich besteht die Sorge vor einer Amerikanisierung des französischen Staates und der Einführung eines #Spoilsystem: Regierungswechseln könnten in Zukunft viele Wechsel in der Verwaltung folgen, die Politik könnte mehr Schlüsselposten im diplomatischen Korps besetzen. 12/20
Auch hier gibt es eine Vorgeschichte: 2018 erließ Macron ein Dekret, mit dem er den Schriftsteller Philippe Besson, einen Vertrauten, der ein Buch über seinen Wahlkampf geschrieben hatte, zum Generalkonsul in Los Angeles hätte ernennen können. lemonde.fr/politique/arti… 13/20
Die Vertretungen des Quais protestierten, klagten vor den Verwaltungsgerichten der Republik. Anfang 2019 annullierte der #Staatsrat das Dekret, eine Ohrfeige für den #Elysée, die vielleicht nachhallte, als Macron im selben Jahr den "Deep State" im Außenministerium angriff. 14/20
Wie positionieren sich die Chefs der Diplomatie zur Reform? Der ehemalige Außenminister, Jean-Yves Le Drian, hat erfolglos versucht, die Reform abzuschwächen. Der Elysée hat seinen Einfluss in der Diplomatie unter Macron stark ausgebaut, seine Kabinette sind allgegenwärtig. 15/20
Von der neuen Außenministerin, Catherine #Colonna, erwarten die Diplomaten keine Unterstützung. Sie ist zwar Karrierediplomatin, wird aber eher als politische Figur wahrgenommen, weil sie weite Teile ihrer Karriere außerhalb des Quais und vor allem im Elysée verbrachte. 16/20
Zudem eilt der Ministerin ein schlechter Ruf voraus, ihr Führungsstil ist gefürchtet, Gerüchte über Burnouts in ihren Teams machen die Runde. Viele Diplomaten sind sich sicher, dass der Preis für ihre Nominierung die bedingungslose Treue bei der Umsetzung der Reform war. 17/20
Der Streik ist nun die Kampfansage der Diplomaten an den Präsidenten. Viel Hoffnung, dass die Reform noch abgewendet wird, gibt es aber nicht. Eine Forderung ist nun, wenigstens eine breite Konsultation im Ministerium anzustoßen, um die Betroffenen stärker einzubinden 18/20
Auch hier gibt es aber nicht viel Hoffnung. Ein interner Bericht des 🇫🇷 Botschafters bei den VN in Genf, Jerôme Bonnafont, wird auch im Ministerium unter Verschluss gehalten, die Vorschläge kennen nur wenige Diplomaten, eine breite hausinterne Diskussion hat es nie gegeben 19/20
So bleibt abzuwarten, ob die Wellen, die der heutige Streik schlägt, hoch genug sind, um im Elysée ernst genommen zu werden. Einen weiteren Brandherd können Macron und seine Premierministerin Elisabeth Borne so kurz vor den #Legislativwahlen jedenfalls nicht gebrauchen 20/20
Vor dem Außenministerium, an der Esplanade des Invalides, ist einiges los.
Öl hat Frankreich zwar keines, steht auf einem Plakat, aber dafür gute Diplomatinnen und Diplomaten.
Mehr Mittel für die 🇫🇷 Diplomatie, die seit vielen Jahren aus Sicht der Diplomaten kaputtgespart wird. Daraus ergeben sich oft Vorwürfe an die Haushälter aus dem Wirtschaftsministerium, Bercy, mit dem eine historische Feindschaft gepflegt wird.
Frankreichs professionelle Diplomaten - anachronistisch und vom Aussterben bedroht? Langfristig befürchten das auch viele der Unterzeichner des Aufrufs in Le Monde.
Deutlich wird auch: Die Reform des Quai wird in einem größeren Zusammenhang gesehen, als Angriff der aktuellen politischen Entscheider auf den öffentlichen Dienst und den Verwaltungsapparat gesehen.

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