14 Autor:innen, 28 Minuten Vorlesezeit.

Dieser Artikel (spiegel.de/politik/deutsc…) ist der bisherige Höhepunkt im Spiegel-"Feldzug" gegen die DB.

Warum ich das problematisch finde. Und warum ich vermute, dass positive Stimmen ausgeblendet wurden.

Ein medienkritischer Thread 🧵
Vorweg: Ich lese den Spiegel selber, habe ein digitales Abo. Sicher gibt es Artikel, die mich stören. Demgegenüber stehen aber viele sehr gute, die – soweit ich das beurteilen kann – hervorragend recherchiert sind. Eine allgemeine Medienschelte liegt mir fern.
Aber nun zum besagten Artikel.

Eigentlich soll es ja um das #9EuroTicket und das damit verbundene "Chaos" gehen, aber tatsächlich ist es eine Generalabrechnung mit der Deutschen Bahn.

Fair enough, schauen wir uns das Ganze also einmal an.
Wichtigstes "Beweisstück" des Spiegel: Verspätungsdaten zu 650.000 Zugverbindungen, die man "ausgewertet" habe.

Das erinnert stark an das Projekt #BahnMining, dass der Informatiker David Kriesel auf dem CCC-Konkress im Dezember 2019 vorgestellt hat:
Woher kommen die Daten des Spiegel?

Die Verspätungsdaten kommen nicht von der DB, sondern vom kommerziellen Portal "Zugfinder" (zugfinder.net). Betrieben wird Zugfinder von Johannes Schubert aus Berlin, dies schreibt er selbst zur Datenbasis:
Aus den Verspätungsdaten entsteht eine Deutschlandkarte, die in Aussehen und Aussage doch erstaunlich stark der Karte aus dem #BahnMining-Projekt von David Kriesel ähnelt (Folien zum Vortrag von 2019: dkriesel.com/_media/blog/20…)
Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Analyse von 650.000 Zugverbindungen:

(1) Wo wenig Menschen wohnen, sind Züge weniger voll.

(2) Wo viele Menschen wohnen, sind Züge mehr voll.

NB: Dass der Bahnhof Mannheim ein Problembahnhof ist, hätte man wohl auch leichter haben können.
Ansonsten? Viel anekdotische Evidenz.

Eine 23-jährige Studentin hat auf der Strecke von Köln nach München Probleme.
Auch zwischen Bonn und Berlin läuft es für einen weiteren 23-Jährigen nicht gut.
Zum Ende des Artikels kommen wir schließlich zum #9EuroTicket, auch hier beherrschen die Anekdoten das Bild.

Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter hat zwischen Bochum und Hamm Verspätung und kann seinen Sohn nicht mehr ins Bett bringen.
Selbst an Tagen, an denen es eigentlich gut läuft, kommt es natürlich zum GAU, so wie hier zwischen Leipzig und Gräfenhainichen*.

*das soll wohl gemeint sein
Fairerweise muss man dazu sagen, dass in dem Artikel auch viel von politischen Versäumnissen die Rede ist. Insbesondere an Verkehrsminister Wissing wird kein gutes Haar gelassen. Ich kann diese Kritik in vielen Punkten nachvollziehen und teile sie auch.
Doch zurück zum #9EuroTicket und dem "Chaos".

Ist es wirklich so schlimm, wie der Spiegel schreibt? Oder kann der ÖPNV in Deutschland den zusätzlichen Ansturm verkraften?

Das habe ich mich auch gefragt und darum das tägliche #BahnBarometer gestartet.
Klar, ich bin nur ein Popelaccount und die Umfrage ist alles andere als repräsentativ. Aber immerhin: Um die 150 qualifizierte Stimmen gibt pro Abstimmung, und bis jetzt waren sie an jedem Tag, seitdem das #9EuroTicket gilt, überwiegend positiv (> 50%).
Warum sind die psitiven Stimmen dann nicht im Spiegel zu lesen? Wollte man vielleicht von vornherein ein negatives Bild von der DB zeichnen? Wurden positive Stimmen bewusst ausgeblendet?

Vermutlich ja.

Warum ich das vermute? Ich wurde selbst vom Spiegel befragt!
Am 1.6. habe ich mit Laura Meyer, Ko-Autorin des Artikels, ein etwa 25-minütiges Telefoninterview. Ich mache klar, dass es von mir kein plumpes Bahnbashing geben wird, sondern den Versuch einer differenzierten Betrachtung.
Da ich in Finnland lebe, kann ich natürlich nicht viel über die Lage vor Ort berichten. Stattdessen versuche ich, die Qualität des deutschen ÖPNVs im internationalen Vergleich zu analysieren.
Ich versuche klar zu machen: Deutschlands Nah- und Regionalverkehr ist *vergleichsweise* leistungsfähig. Wer mal im Ausland gelebt hat, weiß, wovon ich spreche. Was hingegen Probleme macht, ist der *Fernverkehr*. Meine These "teste" ich zuvor auf Twitter.
Ein Beispiel gefällig?

Ich lebe in #Turku🇫🇮, einer Stadt mit 200.000 Einwohnern. Und wisst ihr, wie viele Regionalzüge es hier gibt? Null.

Richtig gelesen: Keinen einzigen.

Stellt euch das mal in einer Stadt wie Hagen, Oberhausen oder Mainz vor.
Auch nach einem Taktverkehr, wie er in Deutschland auf so gut wie allen Linien im Nah- und Regionalverkehr vorherrscht, würde man sich in vielen, vielen Ländern die Finger lecken.

Alles gut also? Nein, natürlich nicht. Aber es ist eben auch nicht alles schlecht.
Im Interview versuche ich auch, für eine gewisse Gelassenheit zu werben. Ja, das #9EuroTicket ist ein gigantisches Experiment, und vielleicht ist es ein bisschen waghalsig. Aber gucken wir uns die Sache doch erstmal ein paar Tage an, bevor wir vorschnelle Schlüsse ziehen.
Ich kann es mir außerdem nicht verkneifen, meine Kritik an der arg reißerischen Berichterstattung zum Start des 9-Euro-Tickets, nochmal vorsichtig im Interview anzubringen.
Was sich davon im in diesem Thread besprochenen Artikel wiederfindet?

Nichts. Kein Wort.

Ich will damit keinen Anspruch erheben, dass meine Zitate im Artikel erscheinen. Ich will nur sagen, dass es positive Stimmen durchaus gab, diese aber offenbar nicht berücksichtigt wurden.
Was lernen wir daraus?

Der Spiegel scheint sich auf einer Mission zu befinden, dass #9EuroTicket und die Deutsche Bahn niederzuschreiben. Das ist deren gutes Recht. Aber ist es auch zielführend? Mit kommen zuletzt immer mehr Zweifel.
Über eine ganz andere Art, Journalismus zu betreiben, den so genannten konstruktiven Journalismus, habe ich kürzlich hier berichtet.

Schaut es euch mal an, macht euch eure eigenen Gedanken.
P.S.: In meinem monatlichen Newsletter #Zugpost versuche ich selbst möglichst differenziert über Eisenbahn-Themen zu berichten. Ob es mir gelingt? Macht euch doch einfach selbst ein Bild! Das kostet nichts und ihr könnt das Abo jederzeit beenden. traintracks.eu/newsletter/

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