Ein überarbeiteter Thread zu meinem gestrigen zu den Thesen von @TimothyDSnyder & sein Buch "Bloodlands" zur Gewaltgeschichte Osteuropas. Den ursprünglichen Thread habe ich gelöscht - das meiste würde ich genauso wiederholen, aber manche Aussagen waren unpräzise.

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@TimothyDSnyder Diese möchte ich richtigstellen und bedanke mich für die konstruktiven Kommentare und Kritik. Die Screenshots des ersten Threads sind dabei, damit die Korrekturen nachvollziehbar sind.

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@TimothyDSnyder Timothy Snyder war einer der wichtigsten public intellectuals, die früh erkannt haben, welche Gefahr für die Ukraine von Russland ausgeht und hat zu Recht jahrelang die deutschen aufgefordert, ihren kolonialen Blick auf die Ukraine zu überwinden. 👇

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@TimothyDSnyder Manche Deutungen in seinem internationalen Beststeller „Bloodlands“, auf die ich mich beziehe, sind aber sehr problematisch und teilweise einfach unsauber. Dazu gehört die Konstruktion des Raums der "Bloodlands". Siehe Screenshots des ersten Threads, lasse ich so stehen.

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@TimothyDSnyder Auch diese Tweets lasse ich so stehen. Snyder vermengt in dem Kapitel über den stalinistischen Terror gegen nicht-russische Nationalisten teilweise ethnische und politische Feindeskategorien. Siehe dazu die ausführliche Kritik v J. Zarusky (Link im letzten Tweet).

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@TimothyDSnyder Hier mein Fehler & der Grund für die Löschung des ersten Threads: Snyder erwähnt sehr wohl die anti-jüdischen Pogrome im Sommer 1941, die im Baltikum, der Westukraine/Ostpolen stattfanden, allesamt im Zuge des Herrschaftswechsels zwischen Sowjetunion und NS-Deutschland.

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@TimothyDSnyder Was aber zutrifft ist meine zweite Aussage zu diesem Thema: lokaler Antisemitismus fehlt. Die Erklärungen Snyders sind deswegen reduktionistisch. Er macht allein den sowjetisch-deutschen Herrschaftswechsel für die Gewalt an den Jüdinnen und Juden verantwortlich.

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@TimothyDSnyder Dieser Herrschaftswechsel war es tatsächlich auch, der den Ausbruch der Gewalt 1941 ermöglichte und entscheidend war für die Dynamik. Was aber wie gesagt fehlt ist z.B. der litauische, polnische oder ukrainische Antisemitismus, der schon vor dem Krieg existierte.

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@TimothyDSnyder Bei Snyder gibt es deutschen & stalinistischen Antisemitismus, ostmitteleuropäischer Antisemitismus fällt unter den Tisch. In der Zwischenkriegszeit war dieser aber z.B. in Ostpolen, wo viele der Pogrome 1941 stattfanden, sowohl unter Ukrainern als auch Polen virulent.

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@TimothyDSnyder Die Zusammenarbeit mit den Deutschen beschränkte sich nicht nur auf die Pogromwelle im Sommer 1941. Die Angst vor dem Verrat an die Deutschen durch nicht-Juden, ist ein wichtiges Motiv in den Schilderungen Überlebender, siehe dazu das Buch von Omer Bartov zu Buczacz.

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@TimothyDSnyder Diesen Tweet muss ich korrigieren: Synder erwähnt wohl – wenn auch nur äußerst knapp in wenigen Sätzen – die Massaker ukrainischer Nationalisten an der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien und die Racheakte der Polen. Seine Erklärung ist aber diskussionswürdig.

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@TimothyDSnyder Snyder erwähnt beiläufig, dass ukrainische Nationalisten schon lange „gelobt“ hatten „die Minderheiten aus der Ukraine zu vertreiben. Ihre Fähigkeit zur Ermordung von Polen war ein Resultat der deutschen Ausbildung“ (S. 298). Auch das ein Problem: unpräzise Sprache.

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@TimothyDSnyder Was versteckt sich hinter „schon lange gelobt“? Eine Andeutung des faschistischen ukrainischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit – warum benennt er ihn dann nicht? Zur Geschichte von OUN und UPA z.B. findet sich in Synders Buch eigentlich nichts.

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@TimothyDSnyder Und was genau hatte die UPA (Ukrainische Aufstandsarmee, verantwortlich für die Morde) von den Deutschen gelernt? Die Fähigkeit zur genozidalen Gewalt, das Töten, die Ideologie? Wie genau und wann? Das sind wichtige Fragen, um die ethnischen Säuberungen zu verstehen.

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@TimothyDSnyder Das Problem wird deutlich in Snyders Thesen zu Kollaboration: Ihm zu Folge war es entweder die Indoktrination durch den Stalinismus oder den Nationalsozialismus, der jemanden veranlasste, mit der jeweils anderen Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten, oft auch mit beiden.

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@TimothyDSnyder Nationalistische Ideologien, Antisemitismus, Hoffnung auf einen eigenen Staat unter deutscher Protektion – all diese Faktoren schließt Snyder damit implizit aus oder marginalisiert sie. Es konnte Zufall sein, wo man landete (Zitat im vorigen Tweet auf S. 361).

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@TimothyDSnyder Diese sehr starken Thesen kommen ganz ohne Quellennachweis aus. Bemerkenswert auch die These der doppelten Kollaboration: an der Stelle oben wird sie als Fakt dargestellt, an anderer Stelle zugestanden, dass es dazu keine systematische Studie gibt (S. 392, FN 20).

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@TimothyDSnyder Snyder impliziert, dass Kollaborateure entweder idoktriniert waren oder keine Wahl hatten. Ja, manchmal konnte Kollaboration lebensrettend sein, z.B. für sowjetische Kriegsgefangene. Manchmal war es aber auch nur die Gier nach der Wohnung des jüdischen Nachbarn.

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@TimothyDSnyder Ergänzend zu diesen Tweets: Snyder sagt, dass die Rote Armee die Juden und Jüdinnen befreite, aber er vernachlässigt die Identifikation, die viele Menschen mit der Sowjetunion entwickelten, oft erst durch den Kampf gegen den Faschismus. Auch z.B. in der Ukraine.

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@TimothyDSnyder Auch das lasse ich stehen: Snyder sagte neulich in der FAZ, dass die koloniale Ausbeutung der Ukraine Hitlers "Hauptziel" war, das stimmt nicht. Ich bezweifle nicht Hitlers Ziel der kolonialen Ausbeutung der Ukraine. Aber: dies galt nicht nur für die Ukraine.

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@TimothyDSnyder Koloniale Ausbeutung Osteuropas, Versklavung der Slawen, Ermordung der Juden und Jüdinnen - all das waren ineinandergreifende Ziele, die sich leicht voneinander lösen lassen zur Definition eines "Hauptziels".
Kritik von J. Zarusky: ifz-muenchen.de/heftarchiv/201…
Außerdem 👇

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@TimothyDSnyder Kritik zu "Wege in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika" (dieses Buch habe ich nicht gelesen, kann ich dswg. nicht beurteilen): hsozkult.de/searching/id/r…

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@TimothyDSnyder Es gab Fragen zu weiterer Literatur, dazu schreibe ich noch etwas. Und: Das ist kein Aufruf Snyder nicht zu lesen, das Buch lohnt sich trotzdem. Die These, dass die Länder Ostmitteleuropas Opfer zweier Diktaturen waren, stimmt. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

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@TimothyDSnyder Letzte Bemerkung: Vielen Dank für die ausschließlich positive Rückmeldung zu meiner Entscheidung der Löschung des ersten Threads & der Korrektur. Twitter ist definitiv besser als sein Ruf. Und Entschuldigung an Timothy Snyder für die Ungenauigkeiten im ersten Thread.

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Korrektur zu Tweet 21: "all das waren ineinandergreifende Ziele, die sich NICHT leicht voneinander lösen lassen zur Definition eines "Hauptziels"."

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