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Jul 12 48 tweets 7 min read
Russland bereitet in diesen Tagen die nächste Phase des Angriffs- und Vernichtungskriegs gegen die Ukraine vor. Die Ukraine versucht gleichzeitig die Initiative zu gewinnen. Auch wir sollten die Lage neu bewerten und die militärische Unterstützung schnell und kräftig ausbauen. 🧵
Nachdem Russland im Donbass in Sjewjerodonezk zunächst sehr hohe Verluste erlitt, konnte die Ukraine die Verteidigungstaktik in der Nachbarstadt Lyssytschansk nicht erfolgreich anwenden. Die Russen umgingen Lyssytschansk und die Ukrainer mussten sich schnell zurückziehen. 2/
Jetzt beschießt Russland mit älteren, weniger treffgenauen Raketen und mit Raketenartillerie weiterhin ukrainische Städte, ordnet während einer operativen Pause am Boden jedoch seine Kräfte neu. 3/
Dabei versuchen die russischen Streitkräfte, erlittene Verluste auszugleichen, dezimierte Einheiten wieder zu verstärken, Fahrzeuge und Technik nachzuführen und die Logistik anzupassen. 4/
Russland will damit die Voraussetzungen für einen massiven Angriff auf den Ballungsraum Slowjansk, Kramatorsk, Kostjantyniwka, Bachmut mit insgesamt vormals mehr 400.000 Einwohnern schaffen. 5/
Der Großangriff soll offenbar aus drei Richtungen erfolgen - von Norden aus Izium, von Südosten auf der Route Lyssytschansk-Bachmut und von Süden aus Donezk. 6/
Die Ukraine verfügt in Slowjansk und Kramatorsk über seit acht Jahren ausgebaute Stellungen und Ausweichstellungen. Russland wird einen Angriff eine gewaltige Konzentration an Kräften aufwenden müssen. 7/
Eine Schlacht würde sehr wahrscheinlich Monate dauern, diese Städte weitgehend verwüsten und könnte, wenn überhaupt, von Russland nur unter extrem hohen Verlusten gewonnen werden. 8/
Derzeit führt Russland mit Vorauskräften abtastende Angriffe an der Frontlinie durch, um ukrainische Stellungen und mögliche Schwächen zu erkennen. Dieses Abtasten ist auch südlich von Saporishja zu beobachten. Ein Unterstützungsangriff Russlands vom Süden in Richtung 9/
Saporishja könnte eine zusätzliche Option sein. Auch die Ukraine führt derzeit südlich von Saporishja Kräfte zusammen und kündigte Gegenangriffe in Richtung Melitopol an. Möglicherweise entsteht in der kommenden Phase des Krieges südlich von Saporishja ein neuer Schauplatz. 10/
Seit einigen Tagen nimmt die Ukraine erfolgreich und systematisch mit weitreichender westlicher 155mm Artillerie und Mehrfachraketenwerfern HIMARS die russischen Führungseinrichtungen, Kommunikation und Logistik unter Feuer. 11/
Die Ukraine zerstörte mehr als 15 russische Munitionsdepots für Artillerie und Raketenartillerie. Sie traf außerdem Stützpunkte der vor allem als Besatzungstruppen genutzten Rosgwardia-Einheiten, außerdem Gefechtsstände, Stäbe, Kommunikationseinrichtungen und Treibstofflager. 12/
Dort, wo die Ukraine diese westlichen Waffen einsetzen kann, gelingt ihr zunehmend eine Verschiebung des Momentums. Russland ist zur Anpassung gezwungen, zieht Führung, Kommunikation und Logistik weiter ins Hinterland zurück und gerät erkennbar in Bedrängnis. 13/
Da die Ukraine an der Länge der Front bisher noch über deutlich zu wenige dieser Systeme verfügt, kann sie diesen Vorteil nur in wenigen Abschnitten ausspielen. 14/
Auch im Gebiet am südwestlichen Ufer des Dnipro kann die Ukraine bisher nur punktuell Übergewichte bilden und angreifen. Seit Monaten bewegt sich dort nur wenig, trotz einer immer wieder erklärten ukrainischen Offensive in Richtung Cherson. 15/
In und bei Charkiw setzt Russland den Beschuss fort und hält weiter signifikante Kräfte bereit, wie zunehmend wieder in Richtung Sumy. Dies dient vermutlich dazu, ukrainische Kräfte zu binden, damit sie für die Verteidigung des Donbass nicht herangezogen werden können. 16/
Gleiches gilt an der Nordgrenze zu Belarus vor allem im Nordwesten, wo belarussische Kräfte weiterhin üben und damit ukrainische Kräfte zwingen, auf der Gegenseite abwehrbereit zu bleiben. 17/
Die ukrainischen Streitkräfte beweisen seit Wochen eindrucksvoll, dass sie auch modernste Waffensysteme schnell in ihre Arsenal integrieren und mit großen Erfolg ins Gefecht bringen können. 18/
Westliche Ausbilder - auch deutsche - berichten über hervorragende Kenntnisse ukrainischer Artilleristen und den effizienten Einsatz von CAESAR, PzH 2000, M109, M777. Zum Artilleriekrieg sind es oft eher die Ukrainer, die ihre westlichen Partner unterrichten, als umgekehrt. 19/
Die Bewertung, die Ukrainer könnten mit modernen und nicht-sowjetischen Waffensystemen nicht umgehen, ist damit endgültig widerlegt. Diese Hilfe kann und muss jetzt sehr rasch ausgeweitet werden. 20/
Die USA liefern bereits weitere Mehrfachraketenwerfer, auch Deutschland sollte die Lieferungen von 155mm-Artillerie und Munition deutlich aufstocken. 21/
Die Lieferung kampfstarker westlicher Waffen führte, anders als vielfach behauptet, gerade nicht zu einer weiteren Eskalationen durch Russland, sondern vor allem zu wütender Propaganda im russischen Staatsfernsehen. 22/
Längst werden von Partnern gelieferte weitreichende Distanzwaffen, aber auch Kampf- und Schützenpanzer und unterschiedliche westliche gepanzerte Fahrzeuge von der Ukraine an der Front eingesetzt, ohne dass eine russische "Eskalation" jenseits der Rhetorik stattgefunden hätte. 23/
Russische Angriffe auf westliche Waffen- und Munitionslieferungen außerhalb der Grenzen der Ukraine hat es nicht gegeben. Die westlichen Waffensysteme erreichen die ukrainischen Streitkräfte und werden schnell an die Front gebracht. 24/
Für eine nukleare Eskalation gibt es über die üblichen Drohungen als Teil der psychologischen Kriegsführung hinaus keinerlei Anzeichen. Die nukleare Rhetorik der russischen Seite hat im Vergleich zum Beginn des Krieges sogar spürbar abgenommen. 25/
Die westlichen Waffen wirken, die Lieferungen sind aber noch klein und kommen zu langsam. Russland zeigt mit einer erneut nötigen operativen Pause Schwäche. Mit maximalem Aufwand und unter extrem hohen Verlusten erreicht Russland nur geringe Landgewinne. 26/
Ob Russland dazu in der Lage ist, die Herrschaft in den eroberten Gebieten zu konsolidieren und die Gebiete zu halten, bleibt dabei fraglich. 27/
Westliche Hoffnungen, dass Russland sich auf die Eroberung des Donbass beschränken würde, sind falsch. Schon jetzt attackiert Russland weiter in Charkiw und Sumy, unternimmt Vorstöße in Richtung Saporishje und 28/
Zugladungen mit Kampfpanzern und Schützenpanzer werden von der Krim aus zur Südschiene mit dem Ziel Cherson-Mykolajiw-Südlicher Bug-Odessa gebracht. 29/
Ausgehend von diesem militärischen Sachstand sollten die Partner der Ukraine jetzt ganz massiv und schnell weiter liefern und unterstützen. Damit könnten sie der Ukraine dabei helfen, noch im Sommer die Initiative zu gewinnen. 30/
Es ergibt keinen Sinn, jetzt abzuwarten oder zu zögern, bis Russland sich erholen und neu aufstellen kann. 31/
Die Ukraine braucht dringend mehr geschützte Mobilität für ihre Truppe, die unter ständigem Artilleriebeschuss stehen. Nur mit gepanzerten Fahrzeugen kann die Truppe beweglich werden und letztlich die Russen zurückdrängen. 32/
Aus Deutschland kommen dafür Marder, Fuchs, Dingo, Mungo, Eagle und M113-Varianten in Frage. 33/
Die bisher gelieferten etwa 300 und insgesamt 900 zugesagten gepanzerten Fahrzeuge unterschiedlicher Typen - davon bisher keine aus Deutschland - sind bei 1200 km Frontlinie und mehreren hunderttausend Soldaten noch deutlich zu wenig. 34/
Die Ukraine erzielt hohe Wirkung mit 155mm Artillerie und HIMARS. Die Ausstattung mit 155mm Artillerie und passender Munition muss weiter beschleunigt werden. Von etwa 300 gelieferten und zugesagten 155mm Haubitzen stammen bisher nur 10 aus Deutschland. 35/
Dazu braucht die Ukraine Unterstützung bei Transport, Verteilung und Vorstationierung der Munition z.B. mit Containersystemen. Munition muss direkt für die Ukraine produziert werden. Es ist hilfreich, dass Rumänien auch wieder 152mm Artilleriemunition produziert. 36/
Darüber hinaus brauchen die ukrainischen Streitkräfte und die Territorialverteidigung ständig Treibstoffe, Fahrzeuge für Treibstofftransport und Möglichkeiten zur Lagerung. Auch Jeeps, Pickups und Kleinbusse sind sehr wertvolle Hilfen. 37/
Der Ukraine helfen an der sehr langen Frontlinie möglichst viele Drohnen. Dabei sind auch zivile Drohnen mit Kameras sehr nützlich. 38/
Vor allem für mögliche Offensiven benötigt die Ukraine mehr und bessere Mittel gegen die teilweise sehr starke russische elektronische Kampfführung. Sichere, verschlüsselte Kommunikation ist ebenso notwendig wie spezielle Munition und Anti-Strahlungsraketen (ARM). 39/
Eine wirksame Entlastung und Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte kann auch durch die Infanterieausbildung von Reserven erfolgen, wie es die Briten gerade für mehrere tausend ukrainische Soldatinnen und Soldaten tun. 40/
Das Modell der Infanterieausbildung im Ausland scheint ebenso zur Vervielfältigung geeignet wie die Instandsetzung ukrainischer Waffensysteme mit Kapazitäten innerhalb von EU und NATO. Mehr Reparaturwerkstätten und Instandsetzung an den Westgrenzen der Ukraine wären sinnvoll. 41/
Insgesamt kommt Russland im Donbass mit der "Feuerwalze" weiterhin nur sehr langsam voran. Wenn die Partner der Ukraine jetzt schneller und entschlossener agieren, können sie dazu beitragen, dass die Ukraine in die Vorhand kommt. 42/
Fazit: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tritt in eine neue Phase. Auch Deutschland sollte sich ehrlich fragen: Was ist das Ziel unserer Politik? Was wollen wir mit der militärischen Unterstützung der Ukraine erreichen? 43/
Wollen wir weiter tröpfelnd wenige Waffen liefern - vor allem um vor den Partnern nicht völlig im Abseits zu stehen und minimale Bündnistreue in EU und NATO zu beweisen? 44/
Oder wollen wir gemeinsam mit den Partnern jetzt entschlossen das Nötige tun, damit die Ukraine militärisch eine Wende herbeiführen kann, die Initiative übernimmt und schrittweise in die Lage kommt, den Krieg zu beenden? /END
Eine lesenswerte Studie, wie die Ukraine vom Überleben zum Gewinnen gelangen könnte, ist bei @RUSI_org zu finden: rusi.org/explore-our-re…
Dieser Thread als Volltext hier: ukraineverstehen.de/lange-die-ukra…

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Jul 1
1. Juli. Die Lage im Donbass, am südwestlichen Ufer des Dnipro und bei Charkiw: Wo steht der Krieg und was können wir tun? 🧵
Der Frontverlauf veränderte sich in den vergangenen Wochen nur wenig. Die von unaufhörlichem Artilleriebeschuss getriebene russische "Feuerwalze" rollt im Donbass weiter sehr langsam voran, doch es sind sehr zähe und sehr verlustreiche Kämpfe. 2/
Russland konzentriert im Donbass die Angriffe auf den Versuch einer Umfassung von Lyssytschansk von Südosten und Nordwesten. Nach schweren Verlusten in Sjewjerodonezk versuchen es die russischen Kräfte jetzt mit einer weniger frontalen Vorgehensweise. 3/
Read 38 tweets
Jun 24
Putin's attack plan of a two-day war failed because of the defense of Ukraine by the whole society - with our help. The Russian dictator is now pursuing the destruction of Ukraine in a two-year war. What does it mean for us?🧵
This war will only end if Putin is stopped militarily. 2/
If Putin is not stopped militarily, Mariupol, Severodonezk and Lyssychansk will be followed first by Kramatorsk and Slowjansk, then Zaporizhye and Dnipro, then Kharkiv and Mykolayiv, then Odessa and Kyiv. 3/
Read 21 tweets
Jun 24
Putins Angriffsplan eines Zwei-Tage-Krieges scheiterte an der Verteidigung der Ukraine durch die gesamte Gesellschaft - mit unserer Hilfe. Der russische Diktator betreibt jetzt die Vernichtung der Ukraine in einem Zwei-Jahres-Krieg. Was heißt das für uns? (5 Minuten-Thread)🧵
Dieser Krieg wird nur dadurch beendet, dass Putin militärisch gestoppt wird. 2/
Wird Putin militärisch nicht gestoppt, folgen auf Mariupol, Sjewjerodonzek und Lyssytschansk erst Kramatorsk und Slowjansk, dann Saporishje und Dnipro, dann Charkiw und Mykolajiw, dann Odessa und Kiew. 3/
Read 21 tweets
Jun 21
Mit Waffenlieferungen haben die Partner der Ukraine den Kriegsverlauf beeinflusst und können ihn weiterhin beeinflussen. Doch die jetzt gebrauchten Waffen kommen bisher noch zu wenig und zu langsam in der Ukraine an. Was tun? 🧵 1/15 Niederländischer YPR-765 (IFV-M113-Variante) in der Ukraine
In der ersten Phase des Krieges trugen zügig gelieferte mobile Panzerabwehr- und Luftabwehrwaffen, Schutzausstattung und Munition - auch aus Deutschland - stark dazu bei, dass die Ukrainer Putins militärische Pläne einer schnellen Einnahme Kiews vereiteln konnten. 2/15
Putin verfolgt das Ziel der Auslöschung der Ukraine jedoch weiter. Er ließ lediglich das militärische Vorgehen anpassen. Jetzt gehen die russischen Streitkräfte sehr langsam und systematisch vor und stützen sich dabei vor allem auf übermächtigen Artilleriebeschuss. 3/15
Read 16 tweets
Jun 14
The military situation is straightforward, and so is the sober math: if Ukraine's supporters want to achieve the "Russia must not win the war of aggression" objective, they must deliver more and faster 155mm artillery, armored vehicles, and battle tanks. 🧵 1/6
According to its own statements, Ukraine needs 1000 155mm howitzers with ammunition, 2000 armored vehicles of different types and 500 battle tanks. Military experts estimate the need at about 600-800 155mm howitzers, 1500 armored vehicles and 400 main battle tanks. 2/6
Artillery 155mm:
- Total demand: 800-1000
- Already delivered: about 130
- Additionally committed: about 170
-> Needed: 500-700 3/6
Read 10 tweets
Jun 14
Die militärische Lage ist klar, die nüchterne Mathematik auch: Wenn die Unterstützer der Ukraine das Ziel „Russland darf den Angriffskrieg nicht gewinnen“ erreichen wollen, müssen sie mehr und schneller 155mm-Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge und Kampfpanzer liefern. 🧵 1/6
Nach eigenen Aussagen braucht die Ukraine 1000 155mm-Haubitzen mit Munition, 2000 gepanzerte Fahrzeuge unterschiedlicher Typen und 500 Kampfpanzer. Militärexperten schätzen den Bedarf auf ungefähr 600-800 Haubitzen 155mm, 1500 gepanzerte Fahrzeuge und 400 Kampfpanzer. 2/6
Artillerie 155mm:
- Bedarf gesamt: 800-1000
- Geliefert bisher: etwa 130
- Zusätzlich zugesagt: etwa 170
- davon aus Deutschland: 7
-> Benötigt: 500-700 3/6
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