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Jul 26 18 tweets 4 min read
Heute liest man oft von #CancelCulture. Was viele nicht wissen: Das Canceln unliebsamer Meinungen ist schon lange Teil der politischen Kultur der Linken, nur heute im Mainstream angekommen. Ich selber habe bereits vor 20 Jahren Erfahrungen damit gemacht. Ein persönlicher 🧵
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Ich war damals politisch aktiv bei Attac - das sind diese linken Globalisierungskritiker, die sich für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte einsetzen (Stichwort Tobin-Steuer). Jung und idealistisch wie ich war, hatte ich damals alles gelesen über Finanzmärkte und
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Kapitalismuskritik. Zufällig bin ich dabei über die Ideen eines längst vergessenen deutsch argentinischen Kaufmanns namens Silvio Gesell gestoßen, der vor über 100 Jahren eine ganz andere Art von Kapitalismuskritik formuliert hatte als Marx. Während Marx im Privateigentum
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an Produktionsmitteln die Wurzel des Übels sah, setzte Gesell (selber Unternehmer) seine Kritik am Geldsystem an. Seine Idee: Ein Geld, das ähnlich wie natürliche Güter "rosten", also an Wert verlieren soll, damit Geldbesitzer und Warenbesitzer auf Augenhöhe sind.
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Ein solches Geld, "Freigeld" genannt, würde ohne Zinsen und ohne Inflation (!) funktionieren. Eine Gebühr auf die Haltung von Bargeld würde dafür sorgen, dass das Geld stets in den Kreislauf fließt. Und es wurde sogar schon einmal erfolgreich ausprobiert: Vor 100 Jahren
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führte ein solches Geld mitten in der Wirtschaftskrise im österreichischen Woergl zu einem lokalen Wirtschaftswunder. Nachdem ich das gelesen hatte, war ich total fasziniert und wollte unbedingt einen Vortrag bei Attac Düsseldorf dazu organisieren.
6/17
Ich kontaktierte also einen Referenten, der zu einem Verein gehört, der sich noch heute für diese sogenannte Freiwirtschaft einsetzt (inwo.de). Nachdem ich die Ankündigung des Vortrags auf die Homepage von Attac Düsseldorf gesetzt hatte, meldete sich...
7/17
... die Antifa. Auf dem Portal indymedia erschien ein widerlicher Hetzartikel mit der Überschrift "Attac Düsseldorf - offen nach rechts außen?" Gezeichnet: Antifa Düsseldorf. Der Artikel war voll mit allem, was wir heute im Rahmen der Cancel Culture erleben:
8/17
Verdrehung von Aussagen, Kontaktschuld, Diffamierung. Der Tenor war, dass besagter Referent mal für eine Partei tätig war, in deren Reihen Vertriebene waren, also rechts. Außerdem sei eine Kritik am Geldsystem, insbesondere an Zinsen per se antisemitisch, also rechts.
9/17
Und natürlich sei das insgesamt "verkürzte Kapitalismuskritik", die auch Esoteriker und nicht marxistisch geprägte Menschen gut finden, also rechts. In meiner jugendlichen Naivität dachte ich damals noch, dass man sicher über diese Vorwürfe reden könne. Ich schrieb also der
10/17
Antifa eine freundliche Mail mit dem Angebot einer Diskussionsrunde. Natürlich erhielt ich nie eine Antwort. Ich wurde dann von meinen Kollegen bei Attac dazu gedrängt, statt des besagten Referenten einen anderen Referenten einzuladen, der einfach eine konventionelle
11/17
Kritik des Finanzsystems präsentierte. Am Tag des Vortrags erschienen dann tatsächlich auch einige dunkle Gestalten der Antifa, die wie Blockwarte in den hinteren Reihen saßen und darüber wachten, dass hier ja nichts "Rechtes" vor sich ging. Das Argument für die Ausladung
12/17
meines Referenten war übrigens das übliche: Man dürfe solchen Personen "keine Bühne bieten". Dabei war mein Referent sogar mal bei den Grünen gewesen, bevor er sein Herz für die Freiwirtschaft entdeckt hatte!
13/17
Dieses Erlebnis, nun 20 Jahre her, hat mich bis heute geprägt. Dachte ich vorher immer, dass die Linken "die Guten" sind, die ernsthaft am einer Verbesserung der Welt interessiert sind, weiß ich heute: Viele Linke sind ideologisch verbohrt und kuschen, sobald sie das Wort
14/17
"rechts" hören, ohne nachzuprüfen, was an solchen Vorwürfen dran ist. Und warum? Weil sie in erster Linie daran interessiert sind, in einem sauberen moralischen Licht dazustehen. Ein ernsthaftes Bedürfnis nach "Wahrheit" existiert bei vielen Linken leider nicht,
15/17
geschweige denn Werte wie Toleranz und respektvolle Diskussionsbereitschaft. Seitdem habe ich mich komplett aus der Linken zurückgezogen und merke jetzt durch Corona und die Diskussion um Transgender wieder, wie fremd mir mittlerweile die Linken sind.
16/17
Das, was z. B. @Frollein_VogelV jetzt erlebt, habe ich also vor 20 Jahren bereits kennengelernt. Mit einem Unterschied: Damals war #CancelCulture auf linke Subkultur beschränkt, heute ist sie im Mainstream angekommen.
17/17
Ergänzung: Zwei Jahre später war ich in meiner Uni im AStA Referent für politische Bildung. Auch dort habe ich versucht, einen Vortrag zum Thema Freigeld zu organisieren. Auch dort das gleiche Erlebnis: Der Antifa-Referent hat es gecancelt. Mit denselben Begründungen.

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