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Jul 31 18 tweets 4 min read
Aktuell macht eine Gruppe aus 70 Personen mit ihrer Meinung zum #Gendern die Runde. Deswegen hier einmal ein paar Gedanken und Einblicke in tatsächliche aktuelle Forschung zum Thema, die nicht bloß aus Theoriegesülze besteht. Ein 🧵: (1/17)
Sehen wir einmal von den zahlreichen Schwachpunkten ihrer Argumentation ab, möchte ich drei Vorwürfe hier im Detail aufgreifen: 1) Studien zum generischen Maskulinum ignorieren Stereotype, 2) Studiendesign repräsentiert nicht natürliche Sprache, und 3) die TN(-Zahlen) sind (2/17)
nicht repräsentativ. 1) Ja, viele Studien berücksichtigen Stereotype in ihrem Design nicht. Sicherlich kann das problematisch sein, und sicherlich sollte man den Einfluss von Stereotypen berücksichtigen. Zum Glück gibt es aber Studien, die Stereotype im Design (3/17)
berücksichtigen (z.B. Gygax et al. 2008). 2) Studien im Labor können nur selten natürlichen Sprachgebrauch simulieren, und selbst wenn: Die Methoden, die dies erreichen, sind nicht für jede Fragestellung nutzbar. Ja, das kann ein Problem sein. 3) Auch (4/17)
hat man als Experimentleitung nicht immer (oder eher: beinahe nie) die Möglichkeit, einen repräsentativen Bevölkerungsdurchschnitt für die Teilnahme zu finden. Ja, auch das kann ein Problem sein. Allerdings sind wir in der Linguistik nicht von gestern: (5/17)
Es gibt längst Methoden und Analysemöglichkeiten, um diese drei Probleme in den Griff zu bekommen. Sprache ist längst nicht nur am sprechenden Objekt selbst untersuchbar – Stichwort: Textkorpus.
Zufällig 😉 haben Kolleginnen und ich eine Sammlung von 830.000 Sätzen aus (6/17)
Zeitungen, die wir auf rollenbezeichnende Substantive hin untersucht haben. Hierbei haben wir aus dem Kontext (wichtig – der wird ja angeblich oft vernachlässigt) geschlossen, ob ein Wort generisch oder explizit intendiert war. Anhand dieser (7/17)
codierten Sätze und einiger mathematischen Details sowie theoretischen Überlegungen, die sich gemeinsam „Naive Discriminative Learning“ nennen (z.B. Baayen & Ramscar 2015), konnten wir die Semantik, d.h. die Bedeutung, für jedes Wort als Vektor darstellen. (8/17)
Ja, das klingt vlt. erst einmal abgefahren, ist für Leute, die sich z.B. mit distributiver Semantik beschäftigen, jedoch ein alter Hut. Dass derartige Vektoren Sinn ergeben, haben etliche vorherige Studien gezeigt.
Zurück zum generischen Maskulinum: (9/17)
Wir haben nun also die Semantik von verschiedenen generischen Maskulina, von expliziten Maskulina und Feminina. Also: Lehrer, Lehrer und Lehrerin. Dabei ist diese Semantik unabhängig davon, ob ich als Person Stereotype gegenüber der Rolle habe und sie ist unabhängig (10/17)
von TN – es gibt ja keine.
Natürliche Sprache ist gegeben – die Vektoren sind über „echte“ Sätze berechnet worden. Dennoch gehen wir noch einen extra Schritt weiter, und berücksichtigen in der folgenden Auswertung nichtsdestotrotz Stereotype, indem wir (11/17)
Stereotyp-Wertungen aus Gabriel et al. (2008) berücksichtigen. (12/17)
Jetzt wird’s spannend: Sind generische Maskulina nun anders als explizite Maskulina (dann ist Gendern unnötig) oder sind beide Maskulina gleich (dann wäre Gendern nötig). Trommelwirbel, bitte: Tatatatahhh, generisches und explizites Maskulinum sind nahezu identisch; (13/17)
Stereotype spielen keine Rolle. Heißt: Unsere Ergebnisse legen nahe, dass generische und explizite Maskulina von Hörer*innen als semantisch nahezu identisch verarbeitet werden. (14/17)
Selbstverständlich gehe ich nicht davon aus, dass dieser kurze Thread jemanden davon überzeugt, dass Gendern nötig ist. Hoffentlich ist aber zumindest deutlich geworden, dass man 70 Linguist*innen nicht einfach so unbedingt alles glauben sollte, (15/17)
nur weil’s eine fancy Internetseite und Zeitungsbeiträge gibt.
Selbstverständlich bedarf es auch weiterhin weiterer Forschung: Anders als 70 andere Personen gehen wir nämlich nicht davon aus, bereits alles zum Thema beurteilen zu können. (16/17)
Einen Talk zu unseren Ergebnissen haben wir bereits im März bei der Germanic Linguistics Annual Conference gehalten; einen weiteren halten wir kommenden Mittwoch bei der Second International Conference on Error-Driven Learning in Language. (17/17)
Quellen:
Gygax et al. 2008: doi.org/10.1080/016909…
Gabriel et al. 2008:
doi.org/10.3758/BRM.40…
Baayen & Ramscar 2015:
doi.org/10.1515/978311…
Vortrag von März:
researchgate.net/publication/35…

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Apr 2
🧵 Beim Thema #Gendern scheiden sich die Geister. Oftmals heißt es, dass #Gendern versucht ein Problem zu beheben, das gar nicht existiert. Welches Problem ist das? Und existiert es denn nun? Darüber halte ich heute mit Janina Esser, Viktoria Schneider, @gingermojita (1/10)
& @NataschaRohde einen Vortrag bei der jährlichen Konferenz der @GermanicLing.
Das (angebliche) Problem: Generische Maskulina zeigen einen männlichen Bias. Heißt, wer „Lehrer“ hört, assoziiert dies un(ter)bewusst in erster Linie mit männlichen Lehrern.👨‍🏫 Gleiches gilt (2/10)
für Wörter, die stereotyp als „weiblich“ angesehen werden, z.B. „Kosmetiker“. Zahlreiche experimentelle Studien haben diesen „male bias“ gefunden. 😱
Die Kritik der Gegenseite besteht oftmals daraus, dass der Bias nicht mehr als ein Resultat mangelhafter Experimente (3/10)
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