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Aug 12 25 tweets 4 min read
Finanzminister Lindner hat vorgeschlagen, die kalte Progression der Einkommensteuer zu korrigieren. Wenig überraschend unterstützen ihn Medien wie FAZ, Welt, Handelsblatt, Focus, Wirtschaftswoche etc. Hier meine konträre Meinung: 🧵1/n
Die Kalte Progression beschreibt den Effekt, dass der Einkommensteuertarif nominal formuliert ist. Der Durchschnittsteuersatz steigt also auch wenn das Einkommen nur nominal steigt. Das wird von Vielen als ungerecht empfunden. Bis dahin verständlich. 2/n
Nun haben wir solche Effekte auch bei anderen Steuern und Sozialleistungen. Oft fallen sie dort sogar stärker aus. Die Energiesteuer etwa ist eine Mengensteuer. Sie beträgt seit 2003 65,45 Cent pro Liter Benzin. Inflation seitdem kumuliert 30%. 3/n
Damit sind auch die Steuereinnahmen des Staates aus der Energiesteuer pro Liter Benzin und Diesel real gesunken. Ich habe dazu, auch vor den aktuellen Energiepreissteigerungen, nie etwas von der FDP vernommen. Vielleicht weil man sich als Anwalt der Bürger_innen sieht. 4/n
Aber auch soziale Leistungsgesetze sind nominal formuliert. Sie werden häufig erst verspätet angepasst. So sanken Wohngeld und BaFöG real immer wieder. Das BaFöG wurde nach einer Anpassung 2010 erst 2016 wieder angepasst. 5/n
Auch beim jetzigen BMF Gesetzentwurf soll das Kindergeld in 2023 nur um 3,7% steigen, die Tarifeckwerte werden aber um 5,8% erhöht. Ist der Inflationsausgleich beim Kindergeld und anderen Sozialleistungen weniger wichtig? 6/n
Warum also die Einkommensteuer? Die Einkommensteuer ist die einzige Steuer in Deutschland die progressiv wirkt und gleichzeitig ein hohes Aufkommen hat. Über sie läuft die Umverteilung. Das DIW hat das mal schön aufgezeigt. 7/n
Die gesamte Steuer- und Abgabenlast in % des Einkommens steigt bis etwa zum 85 Perzentil und sinkt danach. Für den Anstieg nach dem Einkommen sind Einkommensteuer und Gewinnsteuern verantwortlich. Für den Abfall die indirekten Steuern und Sozialabgaben. 8/n
Die Einkommensteuer wurde in der Vergangenheit übrigens immer gesenkt, gerade für Spitzeneinkommen. Der Spitzensteuersatz lag in den 80ern bei 56% und heute bei 42% bzw. 45%. Der Satz der Körperschaftsteuer entsprach früher dem Spitzensteuersatz der ESt und beträgt heute 15%. 9/n
1997 wurde die Vermögensteuer letztmals erhoben. 2009 wurde die Abgeltungsteuer eingeführt, die Kapitalerträge mit 25% besteuert. Die Mehrwertsteuer betrug bis 1993 14% und stieg danach in mehreren Schritten auf heute 19%. Auch Sozialabgaben stiegen in der Tendenz an. 10/n
Im Ergebnis hat die Umverteilungswirkung des deutschen Steuersystems über die Zeit abgenommen. Die Ungleichheit, vor allem der Vermögen, ist hingegen gestiegen. Man könnte, wie ich, daraus den Schluss ziehen, dass auch die Umverteilungswirkung wieder zunehmen sollte. 11/n
Die FDP sieht das anders. Mit dem Bestehen auf einer Korrektur der kalten Progression erklärt sie die in der Vergangenheit getroffenen politischen Entscheidungen für unveränderbar. Der bestehende Tarif wird zum „Richtigen“ ernannt, der vor der Inflation zu schützen ist. 12/n
@SBachTax hat schon ausgerechnet, dass 54% der 9 Mrd. Steuersenkung für die kalte Progression an die obersten 20% gehen. Die untere Hälfte der Einkommen erhält lediglich 12%. 13/n
Nun könnte man sagen, dass es legitim ist, dass die FDP den Effekt der Inflation bei der Einkommensteuer verteilungsneutral kompensieren möchte. Aber nicht einmal dieses Ziel wird erreicht. Die Tarifeckwerte werden einheitlich um 5,76% verschoben für 2023. 14/n
Die Inflationsraten sind aber nicht so einheitlich verteilt. Im Juni lagen die Nahrungsmittelpreise um 12,7% über dem Vorjahresniveau. Bei Haushaltsenergie waren es 40,7%. Bei einer Inflationsrate von im Durchschnitt 7,6% sind andere Güterpreise also weniger stark gestiegen. 15/n
Haushaltsenergie und Lebensmittel sind relativ inferiore Güter. Bei steigendem Einkommen geben die Menschen dafür absolut mehr, relativ zum Budget aber weniger aus. Ein Blick in die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 belegt das. 16/n
Alleinstehende mit einem Nettoeinkommen bis 900 Euro gaben im Schnitt 142 Euro für Lebensmittel aus dem Supermarkt aus, bei einem Nettoeinkommen von über 5000 Euro sind es 221. Bei Haushaltsenergie sind die entsprechenden Zahlen 81 und 139 Euro. 17/n
Weil Menschen mit geringem Einkommen einen größeren Teil ihres Einkommens für Güter mit den höchsten Preissteigerungen ausgeben haben sie eine höhere individuelle Inflationsrate. Bei ihnen wird zu wenig korrigiert und bei oberen Einkommen zu viel. 18/n
Außerdem ist es klar, dass untere Einkommen nicht nur härter von der Inflation getroffen werden, sondern dies auch weniger gut ausgleichen können. Ihre Sparquote ist gering oder Null und es werden hauptsächlich lebensnotwendige Güter konsumiert. 19/n
Fun Fact: Bei Kraftstoffen (Tankrabatt!) sieht es anders aus. Hier liegen die Zahlen für obiges Beispiel bei 13 und 106 Euro. Das liegt daran, dass viele Menschen mit geringerem Einkommen gar kein Auto besitzen, während höhere Einkommen im Schnitt auch größere Autos fahren. 20/n
Auf Twitter kursiert das Bild der Partei von der Entlastungswirkung. Dort wird die Entlastung relativ zur vorher bezahlten Steuer angeben. Absolut gibt man zu, dass Spitzenverdiener mehr Entlastung erfahren, aber relativ profitieren so die geringen Einkommen am deutlichsten. 21/n
Ein Beispiel: Der Grundfreibetrag liegt aktuell bei 10.347 Euro. Jemand mit einem z.v.E. von 10.500 zahlt 21 Euro im Jahr. Steigt der Grundfreibetrag im nächsten Jahr auf 10.632 Euro zahlt die Person gar keine Steuern mehr. 100% Entlastung. Oder eben € 1,75/Monat 22/n
Logischer wäre eine Betrachtung relativ zum Einkommen. In % des zu versteuernden Einkommens erreicht die Belastung ihr Maximum aber beim Erreichen des heutigen Spitzensteuersatzes. Das Bild sieht also einfach weniger gut für die Partei und ihr Vorhaben aus. 23/n
Lindner sagt übrigens selbst, dass die durchschnittliche Entlastung bei 192 Euro im Jahr liegt. Das BMF zeigt, dass die Entlastung auf 478 Euro für Menschen im Bereich des Spitzensteuersatzes ansteigt. Schon das zeigt, dass eine relativ kleine Gruppe viel bekommen soll. 24/n
Fortsetzung gleich :)

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Aug 12
Forsetzung:Manche glauben die Korrektur der kalten Progression würde den Kaufkraftverlust ihres Einkommens ausgleichen. Das ist nicht der Fall. Nur wenn das Realeinkommen vor Steuern konstant bleibt, bleibt es das, durch die Korrektur, auch nach Steuern 25/n
Wer also bei 6% Inflation nur 4 % Lohnwachstum hat verliert auch mit Korrektur der kalten Progression ordentlich an Kaufkraft. Die Steuersenkung mildert das nur ein wenig. Die öffentlichen Haushalte soll das etwa 9 Mrd. kosten. 26/n
Nun könnte man sagen, dass man das schon machen könnte, wenn man es um weitere spürbare Maßnahmen für Menschen mit geringem Einkommen ergänzt. Lindner aber will 2023 unbedingt zur Schuldenbremse zurück. 27/n
Read 21 tweets
Jun 15
Übergewinnsteuer Teil 3, Ausgestaltung und rechtliche Aspekte: Ich bin Ökonom, kein Jurist, habe aber vor längerer Zeit eine Ausbildung im Steuerrecht gemacht und bis 2018 für 8 Jahre als Referent für Steuerpolitik im Bundestag gearbeitet. 1/x
Meine Erfahrung dort: Es macht wenig Sinn mit Menschen, die prinzipiell (z.B. weil sie Interessen vertreten) gegen eine Steuer sind über deren Ausgestaltung zu diskutieren. Zumindest solange nicht, wie Diese glauben, die Steuer noch komplett abwenden zu können. 2/x
Daher werde ich mit dem Folgenden Niemanden überzeugen, der bisher nicht davon überzeugt werden konnte, dass eine Übergewinnsteuer prinzipiell sinnvoll ist. 3/x
Read 25 tweets
Jun 14
Fortsetzung Übergewinnsteuer: Sieht man es makroökonomisch kommen weitere Argumente für die Steuer hinzu. Unter Anderem möchte der Bundesfinanzminister schon im kommenden Jahr wieder die Schuldenbremse einhalten. 1/x
Ich finde das falsch, aber er gewinnt auch keine Glaubwürdigkeit, indem er in diesem Jahr immer mehr Kredite aufnimmt, und gleichzeitig behauptet nächstes Jahr würde die Schuldenbremse auf jeden Fall gelten. 2/x
Vielmehr würde es Sinn ergeben schon jetzt einen kleinen Teil der Ausgaben für Unterstützungsmaßnahmen der Haushalte (die womöglich auch noch einmal ausgeweitet werden müssen) auch über Steuern und nicht vollständig über Kredite zu finanzieren. 3/x
Read 17 tweets
Jun 13
Ich muss mich mal zur Übergewinnsteuer äußern. Selbstverständlich kann man dazu unterschiedlicher Meinung sein, aber die Debatte ist aus meiner Sicht (die eines Ökonom und Befürworters) schon durch viele zweifelhafte oder sogar falsche Argumente geprägt. 1/x
Viele machen den Denkfehler, Gewinne als etwas in der Marktwirtschaft Wünschenswertes bezeichnen. Das ist aber nur das Gewinnstreben, nicht sein Erfolg. Im Idealfall sollte der Wettbewerb dafür sorgen, dass langfristig nur geringe Gewinne entstehen. 2/x
Ein Wohlfahrtsmaximum wird bekanntlich erreicht, wenn ein vollkommener Wettbewerb dafür sorgt, dass der Preis den Grenzkosten entspricht. Das bedeutet nicht, dass überhaupt keine Gewinne entstehen. Alle Unternehmen die günstiger produzieren machen dann immer noch Gewinne. 3/x
Read 23 tweets
Jun 1
Heute sinken die Spritpreise. Vielleicht nicht so deutlich, weil die Mineralölwirtschaft ein Teil der geschätzt 3,4 Mrd. als Gewinn verbucht. Das sind zwar nur etwa 12% der Entlastungspakete, aber in meinen Augen so kontraproduktiv, dass man sich damit befassen muss. 1/x
Verteilungswirkung: Im Gegensatz zu anderen Energieträgern geben ärmere Haushalte nicht einen größeren Anteil ihres Einkommens für Benzin und Diesel aus als Reichere. Damit werden also alle etwa prozentual gleichmäßig entlastet, was ja auch das Ziel der FDP war. 2/x
Das DIW hat in seinem Wochenbericht 17/2022 festgestellt, dass auch nach den Entlastungen durch die Regierung ärmere Haushalte prozentual stärker getroffen werden: Bei den ärmsten 10% ein Rückgang des Nettoeinkommens um 3%, beim obersten Dezil 1,3%. 3/x
Read 30 tweets
Apr 19
Anders als andere Ökonom_innen habe ich mich mit einer Meinung zu einem Gas- und Ölboykott schwergetan. Die Frage ist auch alles andere als einfach und mit vielen Unsicherheiten behaftet. Ich befürworte aber jetzt ein Boykott. Die Gründe
Wir wissen heute nicht wie groß die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland sind. Finde es aber auch weniger entscheidend, ob es zwei oder sechs Prozent sind. Wichtiger scheint mir, ob wir die wirtschaftspolitischen Instrumente haben um darauf zu reagieren. Das ist der Fall.
Vor allem Gas ist nicht vollständig substituierbar. Wir können es einsparen und wir können auch auf andere Lieferländer ausweichen (siehe Studie des DIW), aber es bleibt noch eine Lücke. Bestimmte Produktionsprozesse in einigen Branchen werden deutlich reduziert werden müssen.
Read 16 tweets

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