Zur alle Jahre verlässlich wie das Osterfest und die Abgabe der Steuererklärung wiederkehrenden, immer wieder von Null beginnenden Debatte über #KulturelleAneignung hier ein paar längere Passagen aus meinem Buch "Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft."
„In @Msanyal's Roman Identitti steht der bemerkenswerte Satz: „Obwohl Barbara blonder und wenn überhaupt möglich eher hellhäutiger war als Lotte, wäre Nivedita niemals auf die Idee gekommen, sie weiß zu nennen.“ Ice-T bemerkte einmal in einem Fernsehinterview, seitdem er viel
Geld habe, sei er nicht mehr wirklich schwarz, seine Hautfarbe sei nun eher grün – womöglich eine Anspielung auf die Farbe der Dollar Bills. Man könnte sich in diesen verwirrenden Zusammenhängen auch daran erinnern, dass italienische Einwanderer in den USA um 1900 von Weißen
nicht als Weiße angesehen wurden. Oder man könnte an die deutschen Juden denken, die teils Patrioten waren und im Ersten Weltkrieg kämpften, von deutschen Rassisten-Nazisten der Weimarer Zeit aber nicht zu den „Weißen“ gezählt wurden. Wenn derlei brandgefährliche
Hautfarbenkategorisierungen überhaupt noch jenseits historischer Analyse verwendet werden, dann als Selbst-, nicht aber als Fremdzuschreibung. In diesem Fall müsste aber auch der legendäre Song „Don’t Call Me White“ (1994) der Punkband NoFX, der für viele Kontroversen an
US-amerikanischen Colleges sorgte, akzeptiert werden: Wenn anerkannt wird, dass das soziale Geschlecht vom biologischen Geschlecht abweichen kann, dann muss auch anerkannt werden, dass die soziale Hautfarbe von der biologischen Hautfarbe abweichen kann. Sollten dann aber nur
Machtlose die Hautfarben von Mächtigen annehmen dürfen, da es umgekehrt zu ausbeuterischer „Cultural Appropriation“ käme? Dies würde nur dann Sinn ergeben, wenn der Machtstatus statisch und immer an die Hautfarbe gekoppelt wäre. Aber natürlich ist ein schwach pigmentierter
Hartz-IV-Empfänger weniger mächtig als ein stark pigmentierter Londoner Investmentbanker oder ein mittelschwach pigmentierter chinesischer Parteikader. Auch hier greift der Essenzialismus nicht. Kontext, Kontext, Kontext; Empirie, Empirie, Empirie;
Analyse, Analyse, Analyse, ist die Losung. Jeder Karpfen ist ein Fisch, aber nicht jeder Fisch ist ein Karpfen. Ohnehin gilt, mit Appiah: Wir sollten „den Ausdruck ‚kulturelle Aneignung‘ niemals als Vorwurf verwenden und im Sinne einer kulturellen Enteignung verstehen. Alle
kulturellen Praktiken und Objekte sind mobil. […] Das eigentliche Problem ist nicht, dass sich nur schwer sagen ließe, wer der Eigentümer einer Kultur ist, sondern dass schon die Idee des Eigentums das falsche Modell darstellt.“
Auch der Magier, Autor und Schauspieler Penn
Jillette ist überzeugt, dass kulturelle Aneignung nicht tabuisiert werden sollte. In der Talkshow The Joe Rogan Experience bezeichnete der US-Amerikaner kulturelle Aneignung 2019 sogar als „das Größte …, was man überhaupt tun kann“. Nichts sei wichtiger, als die Welt mit den
Augen von jemandem zu sehen, der anders aufgewachsen sei als man selbst. Sogar sich vorzustellen, man sei selbst ein weißer Nationalist, bringe einen weiter. Umgekehrt sei es hilfreich, zu imaginieren, man sei ein afroamerikanischer Transgender-Mann. Natürlich vorausgesetzt, man
ist im ersten Fall Antirassist und und im zweiten Fall ein weißer, heterosexueller Cis-Mann. Für Penn bedeuten diese Imaginationsübungen, ein „Kunstwerk“ zu erschaffen und zu versuchen, die Welt aus dem Blickwinkel dieses Werks zu sehen. In diesem „heilsamen“ Prozess hole man
sich selbst aus „der eigenen Identifikation“ heraus. […] All das ändert nichts daran, dass es schändlich ist, wenn mächtige Gruppen aus Profitstreben weniger mächtige Gruppen kulturell ausplündern.
Wer aber das Spiel des Kultureigentums und der Identifikation nach Hautfarben
– oder Geschlechtern, sexueller Orientierung, Herkunft usf. – mit heiligem Ernst spielt, der irrt schon bald durch ein Labyrinth. Um nicht zugeben zu müssen, dass er die Orientierung verloren hat, wird er seine Identität umso energischer verteidigen und sich in ihr verhärten.
Völlig zu Recht konstatierte der Historiker Erich Keller 2019 auf seinem mittlerweile deaktivierten Twitter-Account, durch „historisch kontaminierte Topoi wie Hautfarbe Gruppen zu konstruieren“ sei „auf allen Ebenen ein katastrophaler analytischer Rückschritt“."

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