Thread by @Hi5_Phil

Weil einige gefragt haben, wie der Vorschlag von der Stadt Wien zu einem neuen EU-weiten Energiemarkt-Modell zu verstehen ist, mach ich einen kurzen Thread zu den wirtschaftspolitischen Überlegungen. krone.at/2799107 #WienEnergie #ZIB #Strompreisdeckel #Strompreisbremse

Eines möchte ich vorausschicken und beschäftigt mich schon länger: Europa befindet sich in einer absoluten Ausnahmesituation. Selbst während des kalten Krieges gab es nicht diese Form von Problemen auf den Gas- und Energiemärkten.

Am ehesten ist die aktuelle Situation mit den Ölpreiskrisen 1973 bzw 1979/80 vergleichbar - und selbst dieser Vergleich ist nicht ausreichend.

Aus meiner Sicht ist Gas aktuell eine Waffe in diesem Krieg. Die Wirtschaftspolitik von Putin/Gazprom ist eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Bisher wurde viele Werkzeuge der Kriegswirtschaft zwar von Russland eingesetzt werden, von Europa allerdings nicht.

Hier scheint die Erwartungshaltung zu sein, dass der liberalisierte Energiemarkt diese Preisschocks einfach absorbiert. Sprich: Die Energieversorger mögen bitte möglichst weitermachen wie vorher und die Kund*innen, Menschen wie Unternehmen, halt einfach mehr zahlen.

Das hat freilich schwere gesellschaftliche und politische Konsequenzen - weil die Mehrbelastung natürlich die Solidarität und Empathie mit der Ukraine dämpft. Wir sehen das aktuell in der Tschechischen Republik, oder auch in Form von Statements von LH Stelzer.

Davon abgesehen hat die Beibehaltung der Marktdesigns aus Friedenszeiten natürlich enorme sozioökonomische Konsequenzen für alle.

Womit wir zum Vorschlag der Stadt Wien kommen. Den kann man, glaube ich auf drei Kernpunkte zusammenfassen:
- Reform des Merit-Order-Marktdesigns (Strompreisdeckel)
- Gemeinsame Beschaffung von Gas durch die EU
- Schutzschirme für Energieversorger

Wien schlägt beim ersten Punkt eine ähnliche Policy vor wie Spanien und Portugal seit Anfang Juli implementiert haben. tagesschau.de/wirtschaft/wel…

Dafür muss ich kurz erklären wie das aktuelle System der Merit-Order funktioniert. Merit-Order steht für Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit. Es orientiert sich an den Grenzkosten von Energieherstellern, also der Preis die letzte, notwendige MWh.

Hierbei treffen wie in jedem Marktangebot (Hersteller) und Nachfrage (Leute/Unternehmen, die Strom brauchen) aufeinander. Die Hersteller melden ihre Grenzkosten und die Strommenge, die Sie produzieren können, ein.

Die Strombörse ist die Schnittstelle und ermittelt den sogenannten Market Clearing Price - den Markträumungspreis.

Damit wird das Grenzkraftwerk definiert, also der Hersteller mit den teuersten Grenzkosten, der aber noch notwendig ist, um die gesamte Nachfrage abzudecken.

So werden ein paar Ziele erreicht um den Strommarkt zu optimieren:


1. In einem sehr komplizierten Markt - viele Verbraucher, einige Hersteller, oft gemeinsame Infrastruktur, physikalische Notwendigkeiten, die Schwierigkeit Strom zu speichern - gibt es

einen Preisbildungsmechanismus der jedenfalls sicherstellt, dass es ausreichend Angebot für die Nachfrage gibt

2. Alle Hersteller, die günstiger produzieren als das Grenzkraftwerk, können einen Überschuss erzielen. Da sind hauptsächlich Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten – z.B. Wind, Wasser - weil zusätzlicher Wind oder Wasser für die Energieherstellung kein zusätzliches Geld kostet.

Wie @StefanSchulmeister korrekt angeführt hat, ist das wichtig, weil diese Kraftwerke oft teure Baukosten haben.

Man spricht vom Merit-Order-Effect, weil so erneuerbare Energie zuerst abgerufen wird und “nur” verbleibende Strombedarf durch Wärmekraftwerke gedeckt wird.

Soweit, so gut.

Um es stark zu simplifizieren: Sagen wir die Grenzkosten 2020 für die nächste MWh waren bei Solarkraftwerken 5 Cent, bei Wind 8 Cent, bei Kernenergie 15 Cent, Wasserkraft 20 Cent, Kohle 50 Cent und bei Gas 90 Cent.

Wenn wir die Grafik als Vorlage nehmen, wäre der Market Clearing Price damit 90 Cent, weil damit die gesamte Nachfrage abgedeckt ist. So wird sichergestellt, dass alle umweltfreundlicheren (und in der Erzeugung günstigeren) Kraftwerke wie Wasser-und Windkraftwerke

jedenfalls zum Zug kommen und ihren Strom verkaufen können. Jede weitere Nachfrage wird dann von Gaskraftwerken erfüllt bis der gesamte Bedarf gedeckt ist. Also bis alle die Strom kaufen wollen Strom bekommen.

Das ist jetzt der Preis für eine MWh. Alle die billiger produzieren, erhalten je nach Herstellungsform Überschüsse. Für Solar wäre 85 Cent, für Wasserkraft 70 Cent.

Durch den russischen Angriff auf die Ukraine, die Sanktionen und die Nichteinhaltung von Lieferverträgen seitens der Gazprom entlang Nordstream1 steigt der Gaspreis seit einigen Monaten sehr stark und ist in der letzten Woche regelrecht explodiert.

So ist auch der Market Clearing Price enorm gestiegen, innerhalb weniger Stunden vom Rekordpreis 700 auf 1.300 Euro. Für die Gashersteller ändert sich damit relativ wenig (je nach Business Modell), für alle darunter gab es enorme Überschüsse

Bezahlt wird dieser hohe Energiepreis auf mehreren Ebenen. Manche Versorger geben ihn nicht 1:1 weiter, weil sie diesen Freiraum bei den Tarifverträgen gar nicht haben. Manche Staaten und Länder zahlen Unterstützungen aus, damit Menschen sich diesen hohen Preis leisten können.

auch die Stadt Wien und die Republik Österreich: wien.gv.at/gesundheit/lei…
Letztlich zahlen diesen Preis aber natürlich wir alle.

Wien schlägt jetzt vor, das Marktdesign zu ändern, um einen niedrigeren Market Clearing Price herzustellen: Dieser Strompreisdeckel würde den Großteil der Merit Order unberührt lassen, aber nach der Preisfindung des Grenzkraftwerkes eingreifen.

Mit dem temporären Markteingriff des „Wiener Modells“ wird zunächst wie oben beschrieben vorgegangen. Angebot und Nachfrage treffen auf den computergesteuerten Handelsplattformen aufeinander. Jedes Kraftwerks gibt sein Angebot ab zu welchem Preis es wieviel MWh produziert.

Beim letzten Kraftwerk, das gerade noch zur Erfüllung /Erzeugung der Nachfrage benötigt wird, wird abgeschnitten und der „Einheitspreis“ festgelegt. Also wie gehabt: Grenzkraftwerk ist Basis für den market clearing price.

m Wiener Modell folgt nun jedoch ein 2. Schritt: Per  Softwarealgorithmus wird automatisch gesagt der Einheitspreis (Clearingpreis) beträgt NICHT die Kosten des letzten noch notwendigen Kraftwerks von z.B. 1000 Euro, sondern alle Käufer müssen nur 300 zahlen.

Die Differenz zwischen 300 Euro und dem bisherigen MCP wird den Erzeugern ausgeglichen werden (zB europäischer Ebene oder den Nationalstaaten am besten aus abgeschöpften Übergewinnen).

Auch wird es notwendig sein einen Höchstpreis festzulegen über dem den Erzeugern die Differenz nicht mehr erstattet werden, da diese sonst Fantasieangebote abgeben könnten und Angebote über 300 Euro müssen zumindest Stichprobenartig eine Überprüfung erfahren.

Diese Reform hätte eine Vielzahl von Effekten: Die billigsten Hersteller würden weniger Überschuss erzielen, aber die Endkunden - Industrie bis jede einzelne von uns - würden deutlich weniger zahlen müssen. Damit würde die Inflation insgesamt runter gehen,.

da alle Produzenten von energieintensiven Produkten und Dienstleistungen geringe Kosten haben.

Zusätzlich schlägt die Stadt Wien vor, dass die EU ein Kartell beim Gaseinkauf bildet, sprich eine zentrale Stelle alle Gaseinkäufe für die EU abschließt.

Das soll verhindern, dass sich Hersteller für das wenige Gas das derzeit geliefert wird gegenseitig überbieten und damit den Preis hochtreiben. Also wird steht dem russischen Gasmonopol ein europäisches Einkaufkartell gegenüber.

Je besser die EU gemeinsam einkauft und gemeinsam den Preis verhandelt desto niedriger wird der Einkaufspreis von Gas und desto billiger kann auch ein Gaskraftwerk produzieren und desto weniger muss dem Gaskraftwerk ausgeglichen werden.

Es sind noch andere Vorschläge dabei, dazu ein andern Mal mehr. Warum kommt die Idee jetzt? Am 9. September hat die EU-Kommission zu einem Energiegipfel eingeladen um das enorme Problem der Kostenexplosion zu lösen.

Dieser Vorschlag wäre eine Möglichkeit. Danke für eure Aufmerksamkeit für diesen sehr kurzen Thread. Schönen Sonntag!