Der 🇺🇦 Journalist Konstantin #Ryzhenko über die Besetzung von #Cherson, das Versagen der 🇺🇦 Behörden, 🇷🇺 Repressionen und den 🇺🇦 Widerstandskräfte gegen die 🇷🇺 Besatzer. Er lebte 6 Monate im besetzten #Cherson und organisierte per Telegram den Widerstand gegen 🇷🇺.
🙏 @AWerberger
Christina Berdinski: Wie begann die Besetzung von Cherson? Es wird jetzt viel über den Faktor Verrat gesprochen, wie war es wirklich?
Konstantin Rhyzhenko: Natürlich wurden wir durch Explosion wach gerüttelt. Ich fuhr zuerst zur Verwaltung und dann zur Antonovsky-Brücke, um Fotos zu machen und zu verstehen, was dort vor sich ging. Um 13 Uhr waren bereits alle Beamten weg, keine einzige Behörde war besetzt.
Die Polizei war irgendwo in der Stadt, Militär habe ich nicht gesehen. Ich bin alle Behörden abgelaufen: Niemand hat etwas getan, es wurden keinerlei Befehle erteilt. Den ganzen ersten Tag bin ich in der Stadt herumgefahren und war entsetzt.
Ich bin ins Rathaus rein. Der Bürgermeister [Igor Kolykhayev] war eher passiv und sagte, es sei schwierig zu arbeiten, weil er noch keinen Kaffee getrunken habe. Ich habe mir das angesehen und festgestellt, dass es es nichts gab. Es gab keine Territorialverteidigung - nichts.
Zu Hause und öffne ich meinen Facebook-Feed: Im ganzen Land herrscht Aufregung. Von allen Seiten kommen Panzer. In Cherson gibt es keine Territorialverteidigung, keine Polizei und kein Militär. Die lokalen Behörden schweigen, die zentralen Behörden waren besorgt über Kiew.
Am nächsten Tag fuhr ich um 7 Uhr morgens mit meinem Auto zum Platz der Unabhängigkeit, schaltete die ukrainische Hymne ein und filmte, wie die ukrainische Flagge über #Cherson wehte, die ukrainische Hymne gespielt wurde und #Cherson standhaft ist. Man musste ein Zeichen setzen.
Ein Zeichen, dass wir noch existierten. Ich bin dann auch mit der Hymne durch die Stadt gefahren, da ich bei den Bewohnern viel Verwirrung gesehen habe. Die Menschen haben nicht verstanden, was vor sich ging.
Die Aktivisten begannen, sich im Stadtrat zu organisieren, und es kamen mehrere örtliche Abgeordnete hinzu. Der Bürgermeister beteiligte sich nicht daran und beobachtete nur aus der Ferne. Lokale Abgeordnete und Aktivisten übernahmen die Initiative.
Dann entstand eine inoffizielle, selbstorganisierte Terrorabwehr. Die Leute kamen einfach und sagten: Wir wollen die Stadt verteidigen. Ein enger Freund von mir rief mich an. Ich war gerade auf dem Weg, die Antonov-Brücke zu filmen, wo die Kämpfe stattfanden.
Er sagte: "Kostja, ich habe mich der Terrorabwehr angeschlossen, ich möchte, dass du weißt, dass dies wahrscheinlich unser letztes Gespräch ist".
Niemand hat die Terrorabwehr organisiert. Sie erhielten einige wenige Kalaschnikows, und das auch nur, weil die Leute danach verlangten.
Christina Berdinski: Was geht es dem Freund? Lebt er noch?

Konstantin Rhyzhenko: Seit der Besetzung haben wir noch 1-2 Mal telefoniert. Ich konnte ihn noch nicht erreichen. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er dort geblieben und versteckt sich, vielleicht ist er geflohen.
Christina Berdinski: Was haben Sie als nächstes getan?

Konstantin Rhyzhenko: Ich bin überall hingefahren. Ich kam an und fragte, was braucht ihr? Sie sagen z.B. Medizin, Wasser, Essen. Ich schrieb es in meinem Telegramm-Kanal. Meine Leser brachten es hin, freiwillig-wer konnte.
Dann sahen wir, dass sie in Tschernihiw die Stadt mit Panzerabwehr-Igeln, Reifen und Sand befestigten wurde. Wir haben beschlossen, auch Panzerabwehr-Igel zu bauen. Wir dachten, dass wir ihnen ordentlich einheizen würden. Wir haben Molotow-Cocktails gebaut.
Ich schrieb: Wir brauchen Benzin, Öl, Flaschen. Wir trafen eine Vereinbarung mit dem Direktor der Schule, wo die Schweißer ausgebildet wurden, er stellte uns die Hallen zur Verfügung. Dann habe ich die Schrottplätze abgefahren, wir holten das Metall und schweißen die Igel.
Aber es war eine spontane Verteidigung. Es war klar, dass wir völlig im Stich gelassen wurden. Ich weiß nicht, warum das so war. Das Militär kämpfte vor der Stadt - das gab es zu 100%. Doch die lokalen Behörden ließen die Bürger völlig im Stich.
Abgeordnete und Beamte tauchten schnell unter. Und es blieben entweder diejenigen übrig, die viel Besitz in der Stadt hatten, oder diejenigen, die sich später als Kollaborateure, herausstellten.
Damals hat niemand etwas gesagt. Das Schweigen der lokalen Behörden ist das größte Verbrechen in der Stadt. Denn die selbstorganisierten Territorialverteidiger wussten nicht, dass kein Militär in der Stadt war, dass sie das Militär abgezogen wurde.
Wir konnten um die Stadt herum Kämpfe. Aber niemand wusste, was dort vor sich ging. Bereits in der letzten Nacht vor dem Einmarsch der Russen in die Stadt, am 28. Februar, fuhr ich alle Orte ab, an denen die Verteidigungsanlagen errichtet werden sollten.
Ja, wir haben Igel gemacht, aber niemand hat uns gesagt, wohin wir sie setzen sollen. Wir haben Molotow-Cocktails gemacht, aber niemand hat gesagt, was wir damit machen sollen.
Der Mann, der die Leitung der Territorialverteidigung übernahm, war, wie sich später herausstellte, ebenfalls ein Kollaborateur. Er hat auch nichts gesagt.
Wir hatten den Eindruck, dass es zu einer Art Zusammenstoß kommen würde, denn niemand hatte uns informiert, dass das Militär längst aus der Stadt abgezogen war.
Als die Stadt bereits abgeriegelt war, gingen die Menschen nachts auf die Straße. Etwa 100 Menschen. Bewaffnet mit insgesamt 1-2 Kalaschnikows. Ich bin zu ihnen gegangen und habe versucht, es ihnen auszureden. Ich sagte: "Die haben Panzer und APCs und ihr habt nur zwei AKs."
In den vier Stunden, die bis zum Morgengrauen blieben, würde niemand Zeit haben, Straßensperren zu errichten oder Igel aufzustellen. Damals waren die Menschen jedoch hochgradig elektrisiert. Wenn man ihnen sagt: "wehrt euch nicht", würden sie dich mit der Mistgabel angreifen.
Als die Russen in der Früh in die Stadt einrückten, nahm die Territorialverteidigung den Kampf mit ihnen auf. Sie wurden kurzerhand mit großkalibrigen Maschinengewehren niedergemäht. Sie erschossen alle, die in ihrer Sichtweite waren.
Die Russen zogen langsam, in geordneter Weise, in die Stadt ein.
Sie kamen in Formationen von allen Seiten.
Christina Berdinski: Das geschah am 1. März?

Konstantin Rhyzhenko: Ja, am 1. März. Sie standen in den Straßen der Stadt, verteidigten sich rundum, und alle schwiegen: Kiew schwieg, die örtlichen Behörden schwiegen.
Und ich bekam Informationen von überall her, 200 Nachrichten pro Minute. Am nächsten Tag schrieb ich auf Telegram: "Freunde, niemand hat es euch bisher gesagt, aber ich sage es euch jetzt - die Stadt ist besetzt."
Christina Berdinski: War das der Zeitpunkt, an dem die Protest-Welle anrollte?
Konstantin Rhyzhenko: Der erste oder zweite Morgen nach der Besetzung begann damit, dass ein Auto mit russischen Hilfsgütern auf einem leeren Platz ankam und niemand ging hin. Niemand nahm die Hilfsgüter an. Die Menschen wollten die humanitäre Hilfe nicht annehmen.
Man hatte das Gefühl, dass die Unserigen jeden Moment in die Stadt eindringen und uns freikämpfen würden. Die Kollaborateure tauchten auf und begannen humanitäre Hilfe anzubieten.
Zwei Journalisten des Chersonskiy Vestnik, die für Vladimir Saldo [ehemaliger Bürgermeister von #Cherson, der sofort zu den Russen übergelaufen ist] arbeiteten, kamen und brachten drei drogensüchtige Personen mit, die zugestimmt hatten mitzumachen.
Aber es bildete sich schnell eine Menschentraube und fing an sie zu bedrängen. In den ersten beiden Tagen sagte jemand etwas von einem Referendum, und es kam zu einer Welle von Protesten: Kundgebungen, Kundgebungen, Kundgebungen.
Das russische Militär sah dies, versuchte aber, nicht mit der Zivilbevölkerung in Kontakt zu treten. Als ein BTR die Stadt verließ und ein Polizist mit einer ukrainischen Flagge auf ihn sprang, schritt das russische Militär nicht ein.
Ihnen wurde gesagt: Verlassen Sie die Stadt, interagieren sie nicht mit der Zivilbevölkerung. Sie wurden sofort durch Rosgvardiya, SOBR und OMON ersetzt. Dies sind die Einheiten, die mit der Zivilbevölkerung "interagieren".
Die nächsten Kundgebungen sahen so aus: Wir schreien - sie stehen, wir schreien - sie stehen. Erst später stellte sich heraus, dass sie sich in der Verwaltung positioniert hatten und über Kameras mit starker Optik verfügten.
Sie machten sehr detaillierte Fotos von der gesamten Kundgebung, von den Gesichtern der Menschen. Dann nutzten sie die lokalen Kollaborateure und identifizierten sie alle. So fingen die ersten "Festnahmen" an.
Sie konnten nicht glauben, dass die Menschen tatsächlich von sich aus auf die Straße gingen, dass sie von sich aus Widerstand leisteten. Sie versuchten, die Organisatoren zu finden.
Sie konnten sie nicht finden, aber sie ließen jemanden vor laufender Kamera sagen, dass sie bezahlt wurden, und ließen sie gehen. Damals wurden sie nicht so schlimm gefoltert und geschlagen wie heute. Dann fingen sie die, von denen sie glaubten, dass sie am aktivsten waren.
Es folgte ein Monat der Unterdrückung. Jede neue Kundgebung war kleiner, aber die Leute kamen. Der letzte Versuch einer Kundgebung fand am 9. Mai statt. Zuvor hatten sie Ende April eine Kundgebung aufgelöst. Danach hielten sich alle zurück und beschlossen, am 9.
Mai zu einer großen Kundgebung zu erscheinen. Aber sie begannen, von Tür zu Tür zu gehen, um herauszufinden, wer kam und woher, sie umstellten den Platz von allen Seiten, alle Höfe, aus denen viele der Aktivisten kamen. Sie haben sich einfach alle gegriffen.
Ein Freund von mir ist nur Brot holen gegangen, er wollte sich nicht an der Demo beteiligen. Er sagte ihnen: "Ich habe 20 Griwna in der Hand, ich gehe raus, um Brot zu kaufen. Sie versuchten ein Geständnis aus ihm herumzuprügeln.
Christina Berdinski: So viele Chersoner haben die Stadt verlassen. Gab es Fluchtwellen? Womit hingen diese zusammen?

Konstantin Rhyzhenko: Jede neue Gewaltwelle gegen die Zivilbevölkerung, löste eine neue Fluchtwelle aus.
Christina Berdinski: Und danach ging #Cherson in den Untergrund?
Konstantin Rhyzhenko: Zunächst hatten wir ein Freiwilligenzentrum: Wir begannen sofort damit, Menschen zu verpflegen und mit Medikamenten zu versorgen, solange das möglich war. Ich lernte einige der Jungs kennen: Wir schufen eine Art Untergrund, wir sprachen darüber.
Denn wir sahen, dass ringsherum Russen einzogen und sich niederzulassen, wir brauchten Augen, und wir informierten uns gegenseitig. wer wo einzog.
Ich habe die Kommunikation über ein VPN [virtuelles privates Netzwerk, das Privatsphäre im Internet ermöglicht] eingerichtet, denn seit dem 4. März hatten die Besetzer bereits begonnen, bei der Kommunikation rumzudoktern.
Wir haben besprochen, was wir tun, wenn es keine Verbindung gibt, und wie wir kommunizieren können. Ich habe verstanden, dass sie versuchen werden jeden einzelnen aufzuspüren.
Ich hatte ein gewisses Interesse an der Widerstandsbewegung in der Westukraine und erkannte, dass jeder gefasst und gezwungen werden sollte, sobald er Kontakt mit den anderen aufnahm, um das Netzwerk zu zerschlagen.
Wir brainstormten einige tage lang. Wir legten Codewörter und Erkennungszeichen fest und gingen durch was zu tun wäre, wenn jemand abgeholt werden würde. Ich habe ein einfaches geografisches Informationssystem entwickelt und wir haben eine Karte erstellt.
Da es viele Straßensperren gab, mussten sie umgangen werden. Und wenn man eine Karte mit Straßensperren hat, ist das sehr hilfreich.
Der örtliche SBU [ukrainischer Geheimdienst] versuchte, mit mir in Kontakt zu treten, aber wir wussten bereits, dass sich ein Verräter unter ihnen befand, also weigerte ich mich, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Dann setzte sich der GUR [ukrainischer Militärgeheimdienst] mit mir in Verbindung. Ich bezweifelte, dass sie es waren. Dann sagten sie mir: Was sollen wir tun, um zu beweisen, dass wir die GUR sind?
Ich sage: Entweder Kim [Vitaly Kim - Leiter der regionalen Militärverwaltung von Mykolaiv] oder Senkevich [Alexander Senkevich - Bürgermeister von Mykolaiv] soll sich bei mir melden und mir Codenamen und Codewörtern der lokalen Agenten nennen, dann können wir zusammenarbeiten.
Zwei Tage vergingen, und Senkevich rief mich per Videoverbindung an. Auf diese Weise begann die Kommunikation mit dem GUR. Ich habe ihnen eine Karte geschickt, auf der zu sehen war was sich wo befand.
Sie baten mich, einige Dinge zu ergänzen, die für sie von größerem Interesse waren. Dann haben wir eine zweite Karte für die Armee erstellt. Wo war die Artillerie, wo die Luftabwehr, wo das Militär? Es war eine Aufklärungskarte von #Cherson, auf der man sehen konnte, was wo lag.
Christina Berdinski: Die ganze Zeit über haben Sie Ihren Telegrammkanal betrieben und waren eine der wichtigsten Informationsquellen über #Cherson. Wie sorgten Sie für ihre Sicherheit?
Konstantin Rhyzhenko: Ich habe anfangs auch Arestovich verfolgt [Berater des Präsidialamtes] und dachte mir "Noch 2-3 Wochen und ein wenig gute Informationen von uns, uns sie werden hier alle hier erschossen werden. Ich habe bei etwas mitgeholfen und gut."
Deshalb habe ich mich anfangs auch nicht groß versteckt. Mein Telegram-Kanal hatte bereits 10-15.000 Abonnenten. Jeder wusste, dass ich den Kanal betreibe, und es war längst zu spät ihn umzubenennen und zu behaupten, dass das nicht ich wäre.
Das was ich dort sagte war sowieso für ein Todesurteil längst genug. Sie kamen Ende März oder Anfang April zu mir, ich weiß es nicht mehr genau, aber ich konnte entkommen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich in Gefahr war und dass ich doppelte Befehle erteilen musste.
Wir trafen uns in einem Chatroom mit den Administratoren der pro-ukrainischen Telegram-Kanäle, und ich erzählte ihnen, dass ich OSINT [Open Source Information and Intelligence Gathering] betreibe, dass ich ein investigativer Journalist bin und euch das beibringen kann und will.
Tagsüber sammelte ich Informationen über das russische Militär, befasste mich mit medizinischen Lieferungen, und abends hielt ich einen Vortrag über OSINT. Ich musste anonymen Teams beibringen, wie sie Daten an das ukrainische Militär übermitteln können.
Am Ende waren es fünf Personen, die gut darin waren. Wenn jemand das Gelände und die Abschussrichtung erkennen kann und weiß, wo sich die Luftabwehr befindet - und das, obwohl er es nie zuvor getan hat -, ist das ein Naturtalent.
Unser Militär sagte: Wir brauchen ein Quadrat. Wir sind auf der Suche nach diesem Quadrat. Damals wie heute halte ich es für sehr wichtig, diesen digitalen Aufklärungswiderstand fortzusetzen.
Ab Ende Mai, als die Hausdurchsuchungen und die Verhaftungen begannen, hielten wir uns stärker bedeckt. Dann begannen wir nach und nach, auch mit den Special Forces zu kommunizieren.
Es gab Leute in #Cherson, die sagten: Wir verstehen nichts von Computern, aber wir können jemanden in die Luft jagen oder erschießen, geben Sie uns Adressen und Zielangaben. Ich meldete dem GUR, dass es solche Leute gibt, aber das ich sie nicht näher überprüfen kann.
Aber ich sah, dass die Russen nach ihnen suchten, dass die Leute nach ihnen fragen. Ich sagte, dass es höchstwahrscheinlich unsere Leute seien. Der GUR beschloss, es zu versuchen. Sie bekamen eine Aufgabe, und sie erfüllten sie. Sie bekamen eine weitere, und erfüllten sie wieder.
Und dann gab es dieses Ereignis - Lasst uns diesen Kollaborateur töten. Zunächst haben wir Daten gesammelt und das Auto verfolgt. Wir sahen, dass die Person dieses und jenes Auto fuhr, gewöhnlich an diesem und jenem Ort parkte und zu dieser und jener Zeit wegfuhr.
Als sie dann auch noch den Weg zurückverfolgten, gab es einen Knall [хлопок] [Eliminierung des Kollaborateurs]. Natürlich war dies nicht immer erfolgreich.
Danach gab es eine große Welle von Durchsuchungen in der ganzen Stadt. Nach jedem Bombenanschlag/Mord wurden die Repressions- und Filtrationsmaßnahmen verstärkt. Sie haben einfach Gräueltaten begangen. Manchmal nahmen sie Leute mit militärischer Erfahrung und traten sie zu Tode.
Christina Berdinski: Trotzdem sind Sie die ganze Zeit über in der Stadt geblieben. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie #Cherson auf jeden Fall verlassen mussten?
Konstantin Rhyzhenko: Meine Untergrund-Zelle hat mich darum gebeten. Mir war klar, dass die Zeit kommen würde und ich aussteigen müsste, also bat ich Bekannte, mir Dokumente zu besorgen. Ich werde Ihnen nicht sagen, wie es gemacht wurde. Mir wurde mit Dokumente geholfen.
Ich hatte Telefone, auf denen ich eine digitale Identität aufbauen konnte: Mit Konten in den sozialen Medien, mit Suchverlauf. Vor dem Schlafengehen habe ich auf jedem Telefon etwas gegoogelt, das mit meiner digitalen Identität übereinstimmt.
Wenn jemand nachschaut, sieht er, dass es sich um einen Buchhalter der sich mit 1C beschäftigt. Ich suchte nach allgemeinen 1C-bezogenen Fragen, las buchhaltungsbezogene Nachrichten und abonnierte Kanäle wie Typisch Buchhalter.
Ich war in der Lage die am häufigsten gestellten Fragen zu beantworten, aber wenn sie tiefer graben würde, würde ich auffliegen. Aber mir wurde auch klar, dass Leute mit einem Universitätsabschluss nicht in die russische Armee gehen.
Das [angelernte Wissen] reichte also aus, um meine digitalen Identität zu stützen. Aber es gab immer weniger Menschen in #Cherson, und ich begann, auf der Straße erkannt zu werden. Und schon sagten der GRU und der Untergrund: "Kostja, du wirst wahrscheinlich gehen müssen".
Christina Berdinski: Wie sieht die Situation in der Stadt jetzt aus? Wie ist die Stimmung?
Konstantin Rhyzhenko: Die Menschen sind müde und glauben, dass es für lange ist. Und das ist eine schlechte Leistung der ukrainischen Propaganda. Es gab keinen Grund, den Menschen Hoffnungen zu machen. Man hätte sie weinen lassen sollen. Sie wären gar hysterisch geworden.
Aber sie hätten gewusst, dass es [die Besetzung] lange andauern wird. Die Menschen sind ausgebrannt und verzweifelt wegen dieser emotionalen Schwankungen. Die russische Propaganda streut Salz in die Wunde und fragt: "Wo bleibt eure Rückeroberung?
Ich kommuniziere mit dem Militär, ich analysiere, und ich verstehe, dass es anfangs keine Waffen gab, dass die Hauptstadt bedroht war, dass es dies und jenes gab. Diese Schwierigkeiten werden allmählich beseitigt.
Und jetzt, um unsere Soldaten nicht zu opfern, wird aus großer Entfernung bombardiert. Wir verlagern den Krieg allmählich auf das Gebiet des Feindes, auf das Gebiet der Krim.
Und es spielt keine Rolle, wie viele Soldaten der Feind hat: Wenn er nichts hat, womit er kämpfen kann, ist das alles wertlos. Aber das kann man den Leuten nicht erklären. Sie wollen bereits jetzt eine ukrainische Flagge auf einem Berg russischer Leichen pflanzen.
Christina Berdinski: Die Chersoner Kollaborateure haben wiederholt erklärt, dass sie am 11. September ein Referendum abhalten wollen. Aber sie scheinen diesen Termin aufgegeben zu haben.
Konstantin Rhyzhenko: Sie könnten jederzeit ein Referendum abhalten. Lassen Sie uns die Situation durchspielen. Morgen werden sie das Internet und das Licht in #Cherson abschalten, und in zwei Tagen werden wir erfahren, dass es in #Cherson ein Referendum stattgefunden hat.
Licht und Internet wurden aus Sicherheitsgründen abgeschaltet, um Partisanen und HIMARS vorzubeugen. Sie werden drei mehrstöckige Gebäude am Rande der Stadt nehmen, sie ablaufen, ein Video von Großmüttern drehen - es ist kein Problem, sie zu finden - und dies alles verbreiten.
Und sie werden sagen: Das Referendum ist durchgeführt worden.
Es wird kein Referendum abgehalten, weil die Lage in Bezug auf #Cherson sehr unklar ist. Ohne #Cherson sieht die Region #Cherson, was den Sieg angeht, klein aus.
Und wenn es ein Referendum gibt und #Cherson zurückerobert wird, bedeutet das, dass die Ukraine ein Gebiet von Russland zurückerobert hat? Russland sagt, es sei für immer gekommen. Und dann wird sich herausstellen, dass #Cherson von Russland weggenommen wurde, wie kann das sein?
Deshalb haben sie große Angst davor, unter diesen Bedingungen ein Referendum abzuhalten. Alles hängt sehr stark von unserer Gegenoffensive in den nächsten Monaten ab.
Christina Berdinski: Aber wie verhalten sie sich: So als ob sie für immer gekommen sind oder als ob sie nur zeitweise in #Cherson sind?
Konstantin Rhyzhenko: Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Oberkommando und dem lokalen Kommando vor Ort. Es ist klar, dass sie fingierte Berichte an die Spitze schreiben, dass alles in Ordnung sei. In der Tat sehen sie, was vor sich geht.
Sie erkennen auch den heftigen Widerstand in #Cherson.
Angenommen, sie führen ein Referendum durch. Aber auch danach werden sie eine große Truppenstärke beibehalten müssen, denn es gibt eine Front und harten internen Widerstand.
In #Cherson leistet alles Widerstand: das Land selbst und die Menschen. Der Widerstand ist allumfassend. Können sie [Die Aufständischen] einen in die Luft jagen? Sie können. Können sie einen vergiften? Sie können. Können sie uns die Standorte des Militärs verraten? Sie können.
Wenn sie nichts von alledem tun können, können sie einem zumindestens in Essen spucken - so viel Widerstand herrscht in #Cherson.
Selbst wenn die Besetzer einen riesigen Apparat von Beamten, Lehrern, Ärzten, Feuerwehrleuten herbeischaffen, reicht es aus, das Militär abziehen zu lassen. Jemand wird ertränkt oder gehängt werden.
Ein riesiges Militärkontingent ständig hier zu halten, bedeutet, die Ostflanke völlig ungeschützt zu lassen.
Die FSB-Leute sind sich darüber im Klaren, dass Russland wohl kaum ein Referendum anstreben wird und sich irgendwann von hier zurückziehen muss. Und vorher müssen sie Geld verdienen.
Deshalb haben sie alles in Gang gesetzt: die Ausfuhr von Metall, Maschinen, Ausrüstungen, die Einfuhr von Alkohol und den Drogenhandel über die Krim. Dies ist eine goldene Zeit für sie, um reich zu werden.
Wenn die Dinge so weitergehen wie bisher, werden wir irgendwann #Cherson befreien. Und wir werden eine komplett geplünderte Stadt übernehmen. Es wird nicht zerstört, sondern geplündert werden, mit einer verarmten und psychisch gebrochenen Bevölkerung.
Wenn die Folterungen und Massengräber aufgedeckt werden, wenn die Feuerstellen in denen die Leichen der Gefolterten in Kellern verbrannt wurden, abgebaut werden, wenn all dies gefunden und identifiziert wird, wird #Bucha als das kleinere Schrecken erscheinen.
🙏 @AWerberger für den tollen Fund

Ich habe die 🇷🇺 Version des Interviews übersetzt👇
nv.ua/amp/hersonskiy…

Hier ist die 🇺🇦 Version 👇
nv-ua.translate.goog/ukr/ukraine/ev…

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